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«Sich vergessen zu können, ist eine Wohltat»

Wie wird jemand zum Schriftsteller? «Wer das Selbstverständliche verliert, ist besonders stark auf Orientierung angewiesen», antwortet Alex Capus. Er sei durch die Scheidung der Eltern und den Umzug von Paris nach Olten als Kind doppelt entwurzelt worden, da habe ihm das Schreiben dabei geholfen, ein Gefühl zu bekommen für seine Identität. Aber Schreiben ist für Alex Capus immer ein Wagnis mit offenem Ausgang. Er schöpfe nicht aus dem Vollen und der heitere Tonfall seiner Bücher sei hart erarbeitet, sagt der 57-Jährige. Als Antrieb diene ihm oft die «duckmäuserische Bravheit» vieler Schweizer.

Interview: Mathias Morgenthaler & Viviane Vonlanthen
Foto: Ayse Yavas


Herr Capus, Sie machen Alltägliches wie das Altglas-Entsorgen zum Ereignis durch den besonderen Blick des Schriftstellers. Haben Sie sehr gelitten in jungen Jahren als Journalist bei der Nachrichtenagentur SDA?
ALEX CAPUS: Nein, überhaupt nicht. Die SDA war ja so etwas wie das Ministerium für die Wahrheit, warum sollte ich da gelitten haben?

Weil man sich bei einer Nachrichtenagentur meist auf die Wiedergabe von Fakten beschränken muss und kaum Geschichten erzählen kann. Von Thomas Bernhard ist bekannt, dass er als Journalist die Wahrheit gerne etwas angereichert hat.
Ich halte es für die wichtigste und ehrbarste Art von Journalismus, klar und verständlich zu berichten, was wann wo passiert ist. Ich bin noch heute dankbar, dass ich da meinen Beitrag leisten konnte, und würde das jederzeit wieder machen. Und ich sehe keinen so grossen Gegensatz zu meiner heutigen Tätigkeit. Auch Fiktion muss wahrhaftig sein, damit sie etwas taugt.

Sie sind als Autor historischer Romane einem breiten Publikum bekannt geworden. Stehen der Historiker und der Romancier nicht immer auf Kriegsfuss miteinander?
Historische Erzählungen sind tatsächlich etwas Heikles. Der Historiker ist zur Faktenhuberei verdammt. Sobald er erklärt und erzählt, rutscht er in die Interpretation, ins Subjektive, verlässt das Feld der Wissenschaftlichkeit. Deswegen braucht der Historiker ja den Erzähler, damit sein Stoff lebendig wird. Das Leben selbst erzählt keine Geschichten, es mäandert, wabert herum, ufert aus. Es braucht das Auge des Betrachters, der in dieser Formlosigkeit eine Struktur sieht oder schafft. Ohne Erzähler keine Geschichte. Unabhängig davon, ob wir Bücher schreiben, erzählen wir uns alle die Geschichte unseres Lebens, legen uns eine Version zurecht, um ein Gefühl zu bekommen für unsere Identität.

Und wer das Schreiben zum Beruf macht, braucht selber besonders viel Orientierung?
Bei mir trifft das zu. Ich war ein Immigrantenkind, kam als Fünfjähriger aus Paris nach Olten. Meine Mutter zog nach der Trennung mit mir in die Schweiz, um wieder als Lehrerin arbeiten zu können. Ich begriff zu Beginn nicht, was da passierte, warum wir die geliebte Grossmutter zurückgelassen hatten – mein Grundvertrauen war erschüttert und ich musste erst einmal die Sprache der anderen Kinder lernen. Vermutlich ist es kein Zufall, dass viele Schriftsteller eine Migrationsgeschichte haben. Wer das Selbstverständliche verliert, ist besonders stark auf Orientierung, auf Geschichten angewiesen. Deshalb habe ich mit Schreiben angefangen, sobald ich alle Buchstaben kannte, und nie wieder damit aufgehört. Als Entwurzelter musste ich meinen Platz finden und behaupten. Wer Affolter oder Nünlist heisst, muss sich in Olten nicht behaupten, dem gehört die Stadt seit 500 Jahren. Wenn einer aber Checchini heisst oder Capus, dann muss er sich anstrengen. Durch die Scheidung und den Umzug war ich doppelt verunsichert und also doppelt angestachelt, es gut zu machen, anerkannt zu werden.

Sie haben mit Ihrer Frau fünf Söhne, betreiben hier in Olten die Galicia Bar, und Ihr vorletztes Buch heisst schlicht: «Das Leben ist gut». Das klingt inzwischen fast schon nach heiler Welt.
Dieser Titel ist immer wieder falsch verstanden worden. Ich behaupte ja nicht, das Leben sei nur schön. Wir müssen alle sterben, viele werden krank, leiden entsetzlich. Aber wenn wir damit Frieden schliessen, ist das Leben gut. Wichtig ist mir, dass wir uns darauf besinnen, wie zerbrechlich das Kostbarste ist und dass wir Wichtigem Sorge tragen sollten. Unsere Zeit wird von nachfolgenden Generationen sehr streng beurteilt werden als eine oberflächliche Epoche, die nur den eigenen Hedonismus bedient und mehr Bäume gefällt als gepflanzt hat. Wer fünfzig wird, tauscht seine Frau gegen zwei 25-Jährige ein in der Hoffnung auf etwas Spass. Das ist nicht meine Welt. Meine Welt ist dieses Eichenparkett hier, das wir unter dem Linoleum gefunden haben. Einen solchen Boden mit dieser Patina kannst du nicht kaufen, nur bewahren. Wenn ich dieser Bar hier nicht Sorge trage, sieht bald alles so aus wie das Gebäude auf der anderen Strassenseite, kalt, charakterlos, ohne Erinnerung. Man hat mir schon öfter Geld geboten, aber ich lasse mich nicht kaufen und gebe diese Bar nicht her – genauso wenig wie meinen Töff dort, der noch sieben Jahre älter ist als ich.

Vielleicht wären Sie ein noch besserer Schriftsteller, wenn Sie nicht auch noch eine Bar führen würden.
Ich habe das Glück, mein Leben so einrichten zu können, wie es mir passt. Ich muss nichts machen, was ich nicht will – und ich mag es, wie unterschiedlich meine drei Haupttätigkeiten sind. Beim Schreiben bin ich ganz für mich und will nicht abgelenkt werden. Da gibt es nichts ausser meinen Gedanken, meinem Empfinden, meiner Arbeit am Text. In der siebenköpfigen Familie hingegen ist immer etwas los. Da bin ich nicht so furchtbar wichtig. Sich vergessen zu können, ist eine Wohltat, demütig Altglas zu entsorgen, verschafft Seelenfrieden. In der Zeit, als ich mich besonders wichtig fand, litt ich am meisten. In der Bar schliesslich ist Anpacken gefragt, da bin ich auch Putzmann und Handwerker, und manchmal erzählen mir Leute am späten Abend ihre Lebensgeschichte. Wenn ich anders gestrickt wäre und mich ganz auf das Schreiben konzentrieren könnte, würde ich bestimmt andere Bücher schreiben. Ob das besser wäre, weiss ich nicht, vielleicht im Gegenteil. Nur Schreiben wäre mir zu wenig, zu sehr Ersatzleben. Und ich könnte auch ohne Schreiben glücklich sein.

Schreiben Sie immer zur gleichen Zeit oder je nach Musse und Inspiration?
Wenn ich ein Buch begonnen habe, arbeite ich sehr diszipliniert. Am Morgen, wenn alle fünf Söhne und meine Frau aus dem Haus sind, setze ich mich hin und schreibe. Das dauert in der Regel bis zum gemeinsamen Mittagessen. Am Nachmittag bin ich meistens nicht mehr sehr produktiv. Manchmal komme ich auch am Vormittag nicht vom Fleck – dann mache ich einen Spaziergang oder gehe Spaghetti einkaufen. Inzwischen kann ich das, ohne wütend auf mich zu sein. Ich weiss, dass das Unproduktiv-Sein zum kreativen Prozess gehört wie die Regeneration zum Spitzensport.

Sie sind aktuell auf Lesereise mit Ihrem neuen Roman «Königskinder». Wie wichtig ist Ihnen die Resonanz auf Ihre Bücher?
Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich mache das nur für mich, und es kümmere mich nicht, wie ein Buch aufgenommen wird. Der Applaus ist das Brot des Künstlers, und ich will geliebt werden wie jeder Künstler. Auch wer gehasst werden will, will im Grunde geliebt werden. Ich bin in der glücklichen Lage, dass viele meiner Bücher zahlreichen Menschen gefallen – solange ein Buch niemanden bewegt, ist es nicht fertig geschrieben.

Wird man überhaupt je fertig mit einem Text?

Eigentlich nicht – zum Glück gibt mir der Verlag jeweils eine Deadline. Zunächst stellt sich ja die Frage, wie man mit etwas Neuem beginnt. Es hilft noch gar nicht so viel, wenn man ein Thema hat, über das man schreiben will. Wichtig ist der Anfang, die ersten Sätze, welche die Tonart vorgeben für die ganze Geschichte. Ist man erst einmal eingetaucht in den Sound, schreibt es sich leichter. Aber in dem Moment, in dem ich ENDE unter die letzte Seite schreibe, beginnt die Arbeit noch mal von vorn – dann kommt die schöne Zeit der Überarbeitung. Die erste Fassung ist nie gut, es gibt immer viel zu verbessern und wegzulassen, bis der Text seine schlichte Schönheit bekommt. Ich erkenne Schwächen am besten, wenn ich mir den Text vorlese. Und ich bin unermüdlich darin, Texte zu überarbeiten; wenn der Verlag mir das Manuskript nicht irgendwann wegnähme, würde ich vermutlich nie damit aufhören. Aber es ist gut, dass es den Abgabetermin gibt, man kann Texte auch kaputt optimieren.

Ziehen Sie andere Menschen zurate während des Schreibens?
Nein, das mache ich mit mir selbst aus. Den ersten Entwurf schreibe ich von Hand in ein Heft – das ist intimer als am Computer, und ich weiss dann, dass der Text auch wirklich bei mir bleibt. Wenn ich am Computer arbeite, schauen mir gefühlt schon der Lektor und der Herr Bucheli von der NZZ über die Schulter. Meine Familie weiss jeweils nicht, woran ich arbeite, aber meine Frau hat ein Vetorecht, bevor das Manuskript an den Verlag geht. Ich finde nicht, dass Literatur alles darf, es soll sich durch meine Bücher niemand direkt blossgestellt fühlen.

Welches ist das schönste Kompliment, das man Ihnen für Ihre Arbeit machen kann?
Manchmal ist die faire Kritik die beste Rückmeldung – ich kann mich eigentlich an keine negative Rezension erinnern, die ich nicht mit genügend zeitlicher Distanz hätte nachvollziehen können. Aber wenn ein Buch frisch herausgekommen ist, schütze ich mich vor zu grossem Lob und vor zu strenger Kritik, weil beides wenig hilft in dem Moment. Es würde mich nur emotional aus dem Gleichgewicht bringen. Das schönste Kompliment ist, wenn mir jemand sagt: «Ich weiss genau, wovon du sprichst. Ich habe es noch nie so gesehen, aber genau so ist es.» Wenn ich also jemanden zur Wahrheit verführen kann.

Arbeiten Sie schon an einem neuen Roman, während Sie mit dem gerade erschienenen auf Lesereise sind?

Nein. Ich bin keiner dieser Schriftsteller, die gefühlt immer zu wenig Zeit haben, ihre vielen Ideen zu Papier zu bringen. Ich schöpfe nicht aus dem Vollen. Ich lebe seit Jahrzehnten mit der Angst, dass mir nichts mehr einfällt, dass ich eines Tages sagen muss: Das wars! Das, was am Ende hoffentlich heiter und leicht daherkommt, ist mit viel Aufwand und Konzentration erarbeitet worden. Derzeit habe ich keine Ahnung, worüber ich als Nächstes schreiben könnte. Ich hoffe, dass im Frühling oder spätestens im Sommer etwas aufblubbert.

Das heisst: Sie sind sich Ihres Könnens nie ganz sicher.

Die Luft ist bei mir immer dünn, und es gibt keine Gewissheit. Das Handwerk des Schreibens, das kann man lernen und lehren, wie das ja auch gemacht wird am Literaturinstitut seit einiger Zeit. Alles andere bleibt eine persönliche Aufgabe, ein Wagnis. Entscheidend ist nicht das handwerkliche Können, sondern der tiefe Antrieb, viel zu lesen, viel zu schreiben, viel zu lernen, den unverwechselbaren Klang der eigenen Stimme zu entwickeln. Das braucht einen Funken in der Seele – und den hat nicht jeder.

Braucht es auch etwas, gegen das man anschreiben will?

Vermutlich schon – bei mir ist das wohl eine anarchische, rebellische Kraft. In Frankreich ist es einfacher, die zu entfalten; da ist der Staat so stark, dass es Bürgerpflicht ist, immer wieder aufzubegehren. In der Schweiz ist der Staat so bürgernah und schwach, es funktioniert alles so tadellos, dass man kaum weiss, wogegen man rebellieren soll. Am besten wohl gegen diese duckmäuserische Bravheit, die sich «faute de mieux» bloss noch über ein wenig Moos an der Bordsteinkante aufregt, oder darüber, dass ich bei Rot über die Strasse gehe statt ein Vorbild zu sein für alle Schulkinder. Ich will aber kein Vorbild sein – oder höchstens ein schlechtes, das braucht es nämlich auch. Ich bin in den 70er-Jahren sozialisiert worden, bin in Jeans und ohne Helm Motorrad und Ski gefahren. Heute sind die Kinder auf der Piste eingepackt, dass sie mit 120 km/h stürzen könnten. Die Schweiz ist wirklich ein Epizentrum der Wohlanständigkeit, da bringe ich gern eine Portion gallische Lust am Diskurs und Dissens ein.

Ihr 27-jähriger Sohn braut nebenan das Bier, das Sie hier in der Galicia Bar ausschenken…
…er verkauft es mir und auch anderen Kunden, ist also unabhängig von mir. Der 18-Jährige steht hier als Barkeeper hinter dem Tresen, der 16-Jährige kommt manchmal nach dem Ausgang vorbei und auch die jüngeren beiden wuseln oft herum. Ich geniesse das sehr, dass sie sich hier wohlfühlen. Aber was war die Frage?

Hegt einer der Söhne ebenfalls literarische Ambitionen?
Nein, bisher nicht, und ich bin nicht unglücklich, wenn das so bleibt. Wenn ein Sohn in die Fussstapfen des Vaters tritt, ist er entweder besser als dieser oder schlechter – und beides ist schwierig.


10. und 17. November 2018