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«Der Schmerz hat mich gelehrt, das Leben tiefer zu verstehen»

Als junge Mutter hat Anna Schreiber zwei Jahre lang ihren Körper verkauft. 33 Jahre später tritt sie mit einem Buch über ihre Erfahrungen an die Öffentlichkeit – aus Wut darüber, dass Prostitution vermehrt als normaler Beruf dargestellt wird. «Prostitution ist immer mit Geld kaschierte Gewalt», sagt die Psychotherapeutin. Sie unterstützt heute Paare darin, sich auf eine tiefe Begegnung einzulassen und einander auch Schwieriges zuzumuten.

Interview: Mathias Morgenthaler  Foto: Fotostudio Thomas


Kontakt und weitere Informationen:
www.annaschreiber.de oder kontakt@annaschreiber.de


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Das Buch:
Anna Schreiber: Körper sucht Seele. Eine Psychotherapeutin blickt zurück auf ihre Zeit als Prostituierte.
Taotime Verlag 2019.

Frau Schreiber, Sie arbeiten als Psychotherapeutin, sind verheiratet und mehrfache Grossmutter. Warum haben Sie ein Buch geschrieben über Ihre weit zurückliegende Zeit als Prostituierte?
ANNA SCHREIBER: Ein Traumatherapeut, bei dem ich eine Weiterbildung absolvierte, nahm mir das Versprechen ab, dieses Buch zu schreiben. Sein wichtigstes Argument war: Es gibt einige Erfahrungsberichte von Prostituierten und es gibt Fachleute, die aus Expertensicht über Prostitution sprechen können. Es gibt aber niemanden, der aus einer Doppelperspektive darüber schreibt: als Betroffene und als Psychotherapeutin. Das hat mich überzeugt.
 
Haben Sie nicht gezweifelt, ob Sie sich so exponieren wollen mit Ihrer Geschichte?
Doch, ich fragte mich immer wieder: Darf ich das? Muss ich es vielleicht? Schade ich damit meiner Familie? Jahrelang habe ich viel niedergeschrieben und wieder gelöscht. Schliesslich habe ich das Buch geschrieben in der Hoffnung, ein tieferes Verständnis der Prostitution zu ermöglichen und klar zu machen, warum es unter keinen Umständen in Ordnung ist, dass eine Person zum Objekt degradiert und zur Benutzung freigegeben wird.
 
Sie haben im Alter von 22 bis 24 Jahren als Prostituierte gearbeitet. Wie lange haben Sie gebraucht, um dies zu verarbeiten?
Die Erinnerung an diese Zeit lebt in mir weiter wie ein Mahnmal. Die erste Befreiung war meine Entscheidung: «Nie wieder Sex gegen Geld!» Ich schaffte es dann zehn Jahre lang nicht, über das Erlebte zu sprechen. Als ich mich in einer Therapiegruppe öffnen konnte und weder ausgeschlossen noch verachtet wurde, erlebte ich das wie eine zweite Befreiung. Ich weihte später auch meine Eltern, meine ältere Tochter und meine Chefin ein, um nicht mehr erpressbar zu sein. Es war kein Tabu mehr. Und nun also die dritte Öffnung, der Schritt in die Öffentlichkeit. Ich habe jedes der 33 Jahre gebraucht, um dafür bereit zu sein. Ich bin heute so stabil wie noch nie, aber es bricht jedes Mal wieder etwas von der alten Verletzung auf, wenn ich mich mit diesem Thema exponiere.
 
Weil Sie nun öffentlich über Dinge sprechen, die in Ihren Augen eigentlich nicht in die Öffentlichkeit gehören?
Ja, ich mache mich noch einmal nackt, um verständlich zu machen, warum Prostitution kein Beruf wie jeder andere ist. Es macht mich wütend, wie in den Medien darüber berichtet wird. Oft lautet der Tenor: Solange die Prostituierten diese Arbeit freiwillig machen und gut versichert sind, ist alles in Ordnung. Man kann Bordelle sogar online bewerten nach Sauberkeit und Anzahl der Parkplätze; es gibt Gütesiegel, die so genannte «Edelbordelle» auszeichnen. Diese Pseudonormalisierung der Prostitution führt dazu, dass das Leid viel leichter ausgeblendet werden kann. Und so geht vergessen, wie brutal es ist, einen anderen Körper für die eigene sexuelle Befriedigung zu benutzen, lieblos, seelenlos, völlig unpersönlich und austauschbar.
 
Sie schliessen kategorisch aus, dass jemand freiwillig oder sogar gerne dieser Arbeit nachgeht?
Es gibt zwei Arten, Prostitution zu verharmlosen und sich das Drama dahinter vom Hals – besser gesagt: vom Herz – zu halten: die eine besteht darin, Prostituierte abzuwerten als Schlampen, Nutten, Huren, kurz: als minderwertige Menschen; die andere gipfelt in der Annahme, Prostituierte seien Frauen, die dauernd Sex wollen und damit nebenbei auch noch gut verdienen. Die Realität sieht ganz anders aus. Der grösste Teil ist Zwangsprostitution und betrifft Frauen, die von Banden verschleppt und dazu gezwungen wurden, auch wenn das natürlich keine ihren Freiern so erzählt.
 
Es arbeiten doch auch Frauen freiwillig als Prostituierte. Ein prominentes Beispiel ist Salomé Balthus, die im Schweizer Fernsehen selbstbewusst über ihre Arbeit als «Edelprostituierte» sprach.
Ich kenne Frau Balthus nicht persönlich. Sie mag das, was sie sagt, so sehen. Auch ich habe mir selber die Geschichte verkauft, es sei ein Zeichen von Stärke, Unangepasstheit, Emanzipation, in hohen Stiefeln und knappen Kleidern Männer zu empfangen. Ich glaubte selber, das zu wollen, was ich tat, weil ich schon abgespalten war von meinen Gefühlen und meiner Körperwahrnehmung. Ich spürte die Verletzungen und die Wunden nicht mehr und verstand noch gar nicht richtig, was ich tat. Ich sah nur, dass mein Handeln funktionell war, weil es Geld einbrachte und dafür sorgte, dass ich gesehen wurde von meinem Mann, von anderen Männern.
 
Kann man diese persönliche Erfahrung verallgemeinern?
Ich halte die Wirkung von Medienauftritten wie jenem von Frau Balthus für sehr gefährlich. Sie erzählen eine Hochglanzgeschichte, die es so zumindest auf seelischer Ebene nicht gibt. Während auf der Reeperbahn in Hamburg alle, die einen Rest Empathie übrig haben, das Elend der Prostitution sehen, können sich potenzielle Freier von so genannten Edelprostituierten durch die Illusion entlasten, hier handle es sich um Frauen, die aus purem Spass ihren Körper verkaufen. Und junge Frauen sehen Bezahlsex als attraktive Option, als Lifestyle mit einer künstlerischen Note. Dabei ist Prostitution immer mit Geld kaschierte Gewalt. Wenn mehr Geld im Spiel ist, ist die Gewalt besser kaschiert. Aber Gewalt ist es in jedem Fall.
 
Wie kommen Sie zu dieser kategorischen Aussage?
Jeder Mensch spürt doch, dass Sex gegen Geld nicht in Ordnung ist – ich kenne jedenfalls keine Eltern, die nicht schockiert wären, wenn ihr Kind dies als Beruf in Erwägung ziehen würde. Als ich das erste Mal Geld annahm für Sex, fühlte sich das fundamental falsch an. In meiner Kindheit hatte ich lernen müssen, Gefühle und Körperwahrnehmungen auszublenden. Dies nahm nun eine neue Dimension an: Meine Psyche spaltete das Falsch-Gefühl ab, ebenso wie all den Ekel und Schmerz während der Prostitution. So machte ich mich passend, war aber völlig getrennt von meinem inneren Erleben.

Sie beschreiben in Ihrem Buch «Körper sucht Seele», wie Sie in einem emotional unterkühlten katholischen Elternhaus aufgewachsen sind und versucht haben, unsichtbar zu sein und nicht zu stören – auch dann noch, als ein Verwandter Sie missbraucht hat. Wurden damals die Voraussetzungen geschaffen für die spätere Arbeit als Prostituierte?
Nach meiner Erfahrung gibt es für die Prostitution drei grundlegende Bedingungen: zum einen der materielle Aspekt, meist massive Geldnot; dann die Geschichte davor: das kann sexualisierte Gewalterfahrung sein in der Kindheit, aber auch emotionale Vernachlässigung oder Bindungsstörungen; der dritte Faktor ist das Gegenwartssystem, zum Beispiel ein Partner, der die Prostitution einfordert oder zumindest nicht verhindert. Die Frau, die sich einfach so, aus Lust und Laune heraus, prostituiert, gibt es nicht. Das ist ein Mythos.
Heute opfern sich viele Frauen für ihr Gegenwartssystem. Sie verkaufen ihren Körper, damit ihre Kinder oder ihre Familien in einem anderen Land nicht verhungern. Das ist eine humanitäre Katastrophe.
 
Was gab bei Ihnen den Ausschlag?
Auch bei mir kamen alle drei Bedingungen zusammen. Durch die frühen Missbrauchserfahrungen hatte ich gelernt, mein körperliches und emotionales Erleben auszuschalten und meinen Körper zu funktionalisieren. Zudem hatte ich ein sehr feines Gespür entwickelt, was mein Gegenüber will – um Gefahren einschätzen zu können. Dieses Gespür ist die Geschäftsgrundlage für die Arbeit als Prostituierte. Die Prostituierte richtet sich komplett nach den Bedürfnissen des Freiers, mimt mal die draufgängerische Verführerin, mal die Schüchterne, die erobert werden will. Für diese Anpassungskunst, für dieses Schauspiel erhält sie ihr Geld. Je perfekter sie inszeniert, desto mehr Geld kann sie verlangen.
 
Sie schreiben im Buch: «Männer machen Prostituierte.» Deshalb sei es wichtig, auch die Not der Männer besser zu verstehen. Was heisst das konkret?
Ein Mann, der um seine eigene männliche Würde weiss und um die Würde der Frau, will keinen Sex gegen Geld. Viele Männer leiden darunter, sich mit ihren Wünschen und Fantasien in einer Liebesbeziehung nicht mitteilen zu können. Manche fühlen sich zurückgewiesen in ihrem Begehren, allein mit ihrer Sehnsucht. Wenn sie dann zu einer Prostituierten gehen oder Pornos anschauen, wird ihr Suchen, ihre Sehnsucht fehlgeleitet. Sie finden keine Erfüllung, sondern geraten in die Spirale aus Erregung und Triebabfuhr, die nach immer stärkeren Reizen verlangt und gleichzeitig herzlos und unpersönlich bleibt. Die hohe Dosis an herzlosem Sex bringt den Mangel nicht zum Verschwinden, sondern verstärkt die Suche und erschwert zunehmend, dem Gegenüber auf der Herzebene zu begegnen.
 
Wie arbeiten Sie mit Paaren, bei denen diese Begegnung schwierig geworden ist?
Wenn beide der Versuchung widerstehen, ihre Bedürfnisse auszulagern, dann zeigen sich diese unmittelbar in der Beziehung. Wichtig ist, dass beide darauf vertrauen können, dass der Kontakt nicht abreisst; dass sie sich dem anderen öffnen können auch mit Schwierigem, sich auch mit dem zeigen, was der Partner nicht erfüllen kann oder will. Das erfordert Ehrlichkeit zu sich und seinem Gegenüber, ein hohes Mass an Kontaktfähigkeit, an Selbstregulationsfähigkeit und an Mitgefühl. Kurz gesagt: Mut und Liebe.
 
Wird diese Kommunikation in der Beziehung erschwert durch die jederzeit leicht auf dem Smartphone verfügbaren Kontakt- und Sexangebote?
Es ist eine bewusste Entscheidung, ob wir uns auf eine echte und tiefe Begegnung einlassen oder austauschbare Dates respektive Sex nur konsumieren wollen. Das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, stärken wir. Fokussieren wir uns auf die Oberfläche und suchen unkomplizierten «Sex to go» oder Sex-Ersatz, wird das sexuelle Erleben immer oberflächlicher. Wer viele Pornos konsumiert, wird die Sexualität mit dem eigenen Partner bald als mühsam und unspektakulär erleben. Wollen wir uns aber ganzheitlich erleben, ganz gesehen werden, dann tun wir gut daran, unsere Aufmerksamkeit auch in der sexuellen Begegnung auf unseren Herzkontakt und die innige, tiefe Begegnung zu richten. Entscheidend ist, dass wir offen bleiben, in der Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und in unserer Kontaktfähigkeit.
 
Sie sagten, Prostitution sei «unter keinen Umständen in Ordnung» und gehöre abgeschafft. Ist das nicht unrealistisch angesichts der Tatsache, dass Prostitution in Europa mindestens seit dem 6. Jahrhundert vor Christus existiert?
Auch die Abschaffung der Sklaverei war lange undenkbar. Dann haben einige Staaten damit angefangen. Es war ein langer Prozess, der gesellschaftliche Konsens hat sich allmählich verändert. Das Gleiche sollten wir bei der Prostitution anstreben. Und auch wenn sich die Prostitution einstweilen nicht verhindern lassen sollte, haben wir die Pflicht, genau hinzusehen und uns klar zu machen, mit wie unendlich viel Leid, Scham und Gewalt sie verbunden ist.
 
Wie haben Sie nach zwei Jahren den Ausstieg geschafft?
Der erste Schritt gelang durch eine Liebesbegegnung. Ich war ganz unten angekommen, verachtete die Welt, die Männer, mich selber. Und erlebte in diesem Moment, welche Kraft eine Begegnung in Liebe haben kann. Ich spürte wieder Lebendigkeit und entschloss, nie wieder Geld für Sex zu nehmen. Diese Begegnung war wie eine Initiation, sie hat mich wieder mit meiner weiblichen Achtung verbunden. Heute kann ich sagen, dass ich durch den Schmerz gelernt habe, mich selber und das Leben tiefer zu verstehen. Durch meine Erfahrungen und durch die vielen Jahre meiner psychotherapeutischen Arbeit habe ich viel gelernt über die Liebe. Ich habe grosse Ehrfurcht vor unserer Liebesfähigkeit und bin dankbar, dass ich heute Menschen helfen darf, ihre eigene Wahrheit wieder zu finden.


26. Oktober und 2. November 2019