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«Es ist höchste Zeit, das Nichtstun aufzuwerten»

Das Arbeitsleben nimmt nach der Zäsur aufgrund der Corona-Pandemie wieder Fahrt auf. Doch der Wiener Neurobiologe Bernd Hufnagl warnt: Wer permanent beschäftigt ist, übersieht leicht das Wesentliche und verliert sich im Oberflächlichen. Ohne regelmässige Pausen und Tagträume verliere der Mensch den gesunden Abstand zu seinem Tun und beraube sich seiner Kreativität und Empathie.

Interview: Mathias Morgenthaler


Kontakt und weitere Informationen:
www.berndhufnagl.com


Herr Hufnagl, Sie führen seit über 15 Jahren das gleiche Experiment durch und lassen Probanden fünf Minuten lang zum Fenster hinausschauen. 95 Prozent empfinden dies nicht als Entspannung, sondern zeigen Stresssymptome. Wie erklären Sie sich das?
BERND HUFNAGL: In Indien oder in der Karibik hätten wir vermutlich andere Resultate bekommen, aber hier in Westeuropa hat die Entspannungsfähigkeit in den letzten 15 Jahren massiv abgenommen. Das ist in meinen Augen eine Folge des Excel-Tabellen-Denkens, der Getriebenheit in einer technologiegläubigen, hoch getakteten Welt.

Das klingt jetzt mehr nach Kulturpessimismus als nach Wissenschaft. Können Sie es konkretisieren?
Unsere Wahrnehmung hat sich durch die hohe Dichte an Reizen enorm beschleunigt. Man kann sich das vorstellen wie einen zu schnell ablaufenden Film. Oder wie wenn Sie über eine Alpwiese rennen, statt zu wandern: Da kommen Sie nicht nur ausser Atem, sondern Sie sehen weder den Enzian, noch hören Sie den Bergbach rauschen. Ihre Wahrnehmung ist eingeschränkt, und Sie stehen unter Stress. Mediziner kennen die zugehörigen klinischen Phänomene: Schlafstörungen, Überlastungsdepressionen, privater und beruflicher Stress. Und auch Laien merken: Je grösser der Stress, desto länger brauchen sie, um beispielsweise richtig im Urlaub anzukommen.

Welche Auswirkungen hat die permanente Anspannung auf unsere Arbeitsleistung?
Stress führt zu einer oberflächlichen Wahrnehmung. Zudem fokussiert man stärker auf das Bedrohliche. So hat die innere Beschleunigung zur Folge, dass Zukunfts- und Versagensängste überproportional viel Raum einnehmen. Umso wichtiger wäre es, die eigene Sicht zu relativieren durch innere Distanz und Abgleich mit der Sicht anderer. Leider suchen aber speziell Führungskräfte unter Stress vor allem Gefolgsleute, die ihre Sicht bestärken. Sie setzen auf Machtabsicherung statt auf Balance.

Sie sagten kürzlich, Manager seien ähnlich abhängig von News wie Junkies von Drogen. Wie äussert sich das?
Das lässt sich leicht im Hirnscanner beobachten. Wenn man Managern ein Smartphone zeigt, wird das Neugier- und Suchtareal im Gehirn auf gleiche Weise aktiviert wie bei Junkies, die eine Spritze sehen. Gegen Neugier ist nichts einzuwenden, aber wir müssen den Trieb, der nach immer neuen Reizen verlangt, in den Griff bekommen. Wir sind mit unserem Gehirn bestens ausgestattet für die Welt von vor 300 bis 100 Millionen Jahren; auf die Herausforderungen der heutigen digitalen Welt dagegen sind wir schlecht vorbereitet. Deshalb müssen wir unbedingt lernen, Pausen zu machen, bewusst Abstand zu nehmen.

Berufskollegen von Ihnen diagnostizieren eine weitverbreitete digitale Demenz in unserer Gesellschaft – Sie auch?
Die Dosis macht das Gift. Gefährlich ist nicht die Nutzung der neuen Technologien, sondern der fehlende Ausgleich. Der asiatische IT-Spezialist, der sich um meine Website kümmert, sitzt 14 bis 16 Stunden pro Tag am Computer. Er ist aber auch Kung-Fu-Grossmeister und ein Meister der Entspannung. Entscheidend ist, dass wir nicht permanent unter Strom stehen und einander nicht gedankenlos unterbrechen mit Dingen, die gar nicht dringlich sind. Intern jede Menge Mails zu verschicken und kurz später noch anzurufen, wenn nicht sofort eine Antwort eintrifft, ist eine schädliche Unsitte.

Manche Unternehmen wie der VW-Konzern stellen am Abend die Mailserver ab, um die Angestellten zu schützen. Ist das sinnvoll?
Ich halte das für keine gute Lösung, zumal VW das nur für die einfachen Angestellten so gehandhabt hat und wieder davon abgekommen ist. Bevormundung funktioniert selten. Ich setze bei den Unternehmen, die ich berate, auf Sensibilisierung und klare Spielregeln. Man weiss aus diversen Studien, dass die meisten Menschen ihr Verhalten verzerrt einschätzen. Sie geben an, vier- bis fünfmal pro Stunde die Mails zu checken, tun das aber 25-mal pro Stunde. Kein Wunder, ist ihnen auch nicht bewusst, wie unbedacht sie ihre Kollegen bei der Arbeit stören. Führungskräfte, die um 23 Uhr oder am Sonntag Mails abarbeiten, sollten sich gut überlegen, ob sie diese auch dann abschicken oder nicht besser auf den nächsten Morgen terminieren. Und sie sollten klar kommunizieren, welche Reaktionszeit sie für angemessen halten. Tun sie es nicht, führt das zu Stress bei den Mitarbeitern, die in ihrer Freizeit aufgeschreckt werden.

Es zwingt sie ja niemand, permanent ihre Mails zu checken.
Das ist bei den meisten zur Gewohnheit geworden. Es gibt dazu eine Studie: In einer Sitzung einer Gesundheitsorganisation wurden nicht funktionierende Smartphones, Tablets und Computer auf den Besprechungstisch gelegt. Obwohl die Sitzungsteilnehmer wussten, dass alle Geräte deaktiviert waren, starrten sie extrem häufig darauf. Ihr Unterbewusstsein war so darauf konditioniert, auf neue Nachrichten zu warten, dass sie wider besseres Wissen handelten. So ist es auch, wenn Leute abends um 23 Uhr oder am Sonntag die Mails checken. Deshalb helfen technische Interventionen wenig. Es braucht eine andere Kultur. Die letzten Jahre war es sehr angesagt, permanent beschäftigt zu sein. Es ist höchste Zeit, das Abschalten und Nichtstun aufzuwerten.

Sie raten Managern, vermehrt Tagträumen nachzuhängen, statt Tasks abzuarbeiten. Kommt das gut an?
Für viele ist das erst einmal schwere Kost, weil sie sich rasch nutzlos fühlen, wenn sie nichts tun. Aber permanente Aktivität führt zu Oberflächlichkeit und Betriebsblindheit. Deshalb gibt es gute Gründe, sich mal in einem Park auf eine Bank zu setzen und nichts zu tun, ausser blöd in die Welt zu schauen. Das verschafft Abstand zu den eigenen Handlungen, ermöglicht Empathie und Kreativität. Aber es ist nichts, was man managen kann, sondern ein intimer individueller Prozess.

Sie haben sich schon früh aus der akademischen Welt verabschiedet und selbstständig gemacht. Welche Ziele verfolgen Sie?
Mein Hauptziel ist, nicht zu wachsen mit meiner Firma und allen Involvierten nebst einem Lohn auch genügend freie Zeit zur Verfügung zu stellen. Als ich mich entschied, nicht im Labor und in den Hörsälen zu bleiben, sondern das neurobiologische Wissen auf die Bühnen und in die Unternehmen zu bringen, war das die Verwirklichung eines Kindheitstraums. Man hatte mir besorgt vorausgesagt, ich würde als Sportreporter enden, nun kann ich meine Lust am Entertainment auf andere Weise befriedigen. Aber ich habe mir geschworen, nie zur Geisel des Terminkalenders zu werden und mich nicht jederzeit zu allem zu äussern. Unverplante Zeit ist ein wunderbarer Luxus und eine Quelle der Zufriedenheit.


13. Mai 2020.