Erich Chiavi, Farbphysiologe, Erfinder und Städteplaner
«Diese Welt braucht dringend ein paar Verrückte»
Seit 14 Jahren arbeitet der Davoser Farbphysiologe und Erfinder Erich Chiavi rastlos an einem gigantischen Projekt: In seiner Hügelstadt sollen bis zu 50'000 Menschen wohnen und arbeiten. Chiavi verspricht sich von seinem Meisterstück die Lösung des Pendlerproblems, weniger Ressourcenverbrauch und mehr sozialen Zusammenhalt. Er hofft, dass in Holland, China oder in der Westschweiz bald gebaut wird.
Interview: Mathias Morgenthaler Foto: ZVG
Kontakt und weitere Informationen:
www.chiavi.ch oder eric.chiavi@chiavi.ch
Herr Chiavi, Sie verfolgen seit 14 Jahren das Projekt, in der Schweiz eine Hügelstadt für 50'000 Bewohner zu bauen. Wie kamen Sie auf diese Idee?
ERICH CHIAVI: Ich komme als Farbphysiologe, der für grosse Firmen wie IBM, Nestlé oder Metro Innenräume von Bürogebäuden gestaltet, viel in der Welt herum. Dabei habe ich in China, in Südamerika, in den USA und Europa überall das Gleiche beobachtet: Der Weg zur Arbeit und zurück raubt den Menschen enorm viel Energie. Und er belastet die Umwelt. Das war der Impuls für mein eigenes Projekt. Ich sagte mir: Wenn es möglich ist, einen 800 Meter hohen Turm in Dubai zu bauen, sollte eine 150 Meter hohe Hügelstadt mit Zugbahnhof und Autozufahrt im Inneren doch kein Problem sein.
Inwiefern wäre in Ihrer Hügelstadt das Pendel-Problem entschärft?
Eine solche Hügelstadt bietet Wohn- und Arbeitsraum für 50'000 Menschen. Bei einer Länge von rund drei Kilometern und einer Breite von höchstens 700 Metern wären die Wege kurz. Die Ost-, Süd- und Westseite des Hügels wird mit Wohngebäuden bebaut, im Norden sind die Unternehmen angesiedelt. Schulen, Spitäler, Sportanlagen, Kulturlokale und Einkaufsmöglichkeiten – all dies ist in unmittelbarer Nähe. Und alle, die das wollen, können über Mittag zum Essen nach Hause. Das stärkt den familiären Zusammenhalt. Zudem haben durch die treppenartige Anordnung alle Bewohner Aussicht und genügend Sonnenlicht. Heute ist das in vielen Quartieren nur wenigen Privilegierten vorbehalten.
Apropos Kosten: Was würden die Häuser in der Hügelstadt kosten?
Es sind Häuser für alle Ansprüche und Lebensphasen geplant, mit einer Grundfläche zwischen 55 und 120 Quadratmetern. Das Ganze ist als Genossenschaftsmodell konzipiert – das heisst, niemand besitzt etwas und auch Menschen mit kleinem Budget können Genossenschafter werden. Heute ist die Situation ja festgefahren. Alle träumen von einem Einfamilienhaus im Grünen – dort, wo noch gebaut werden darf, schreitet die Zersiedelung voran, andere Regionen im Grossraum Zürich, im Kanton Schwyz oder in Genfersee-Becken sind so teuer geworden, dass junge Menschen dort keine Perspektiven mehr haben, weil nur noch die Reichsten unter sich leben. Mein Projekt stoppt die Zersiedelung, schafft Räume für ein echtes Zusammenleben und schont die Ressourcen.
Sie wollen demnach keine Betonhäuser bauen lassen?
Nein, die Basis wird Bienenwabenpapier sein, das mit Harz getränkt wird. So entsteht eine leichte, schalldichte, wasserabweisende Hülle, die enorm stabil ist – Tests haben gezeigt, dass sie ein Gewicht von 200 Tonnen pro Quadratmeter aushält. Das Baumaterial kann man aus Abfallholz gewinnen und nach Belieben bemalen oder überwachsen lassen. Überhaupt sind Pflanzen sehr wichtig, deshalb gehört auch zu jedem Haus ein sechs Meter tiefer Balkon. Wir leben generell in viel zu trockenen Räumen, was unsere Schleimhäute beschädigt. Ich habe für einige Unternehmen Pflanzenwände gestaltet, was die Zahl der Krankheitstage deutlich reduziert hat. Weiter habe ich darauf geachtet, dass die Hügelstadt die notwendige Energie selber produziert.
Wie das?
Die Fassaden werden mit kleinen Klappen versehen, welche durch die Bewegungen Strom produzieren. Zudem werden die Schritte der Bewohner als Energiequelle genutzt. Jeder Schritt erzeugt Druckwellen – diese Energie sollten wir unbedingt nutzen.
Das klingt sehr abenteuerlich.
Ich bin überzeugt, dass diese Form der Energiegewinnung schon in ein paar Jahren normal sein wird, etwa am Hauptbahnhof Zürich, wo täglich Hunderttausende von Menschen auf und ab gehen. General Electric hat kürzlich einen Prototypen entwickelt. Das ist übrigens die grosse Herausforderung eines Projekts wie der Hügelstadt: Es braucht Fachwissen aus so vielen Disziplinen, dass ein Einzelner das nicht stemmen kann. Ich brauche Logistiker, Statiker, Aerodynamiker, Architekten, Liftbauer, Gartenbau-Ingenieure, Informatiker, Hydrologen, Akkustiker, Sanitärinstallateure und viele weitere Spezialisten. Nehmen Sie nur das Beispiel der Aerodynamik: Ich habe die Form der Hügelstadt im Windkanal bei der Empa in Dübendorf getestet, damit mir nicht dasselbe passiert wie den Bauherren des Prime-Tower-Hochhauses von Gigon/Guyer in Zürich. Seit dieser Prestigebau steht, sitzt in den umliegenden Restaurants niemand mehr draussen, weil der Windzug alle Leute vertreibt.
Was würde der Bau Ihrer Hügelstadt kosten?
Ich habe das mit Hilfe von 62 Doktoranden der Universität St. Gallen durchzurechnen versucht. Damals kamen wir auf Gesamtkosten von rund 4,5 Milliarden Franken, aber ich bin überzeugt, dass man die Kosten noch senken könnte. Derzeit evaluiert ein Team von Christian Ludwig, Chemie-Professor an der ETH Lausanne, mögliche Standorte in der Schweiz. In Frage käme die Region zwischen Morges und Yverdon. Oder die Hochebene zwischen Lausanne und Freiburg.
Die entscheidende Frage ist doch, ob Sie einen Generalunternehmer und Partner finden, welche das Projekt finanzieren.
Das ist richtig, denn die Realisierung der Hügelstadt übersteigt meine Möglichkeiten. Das internationale Echo auf mein Projekt ist allerdings so gross, dass ich nicht an der Realisierung zweifle. Dank einer professionellen Visualisierung, welche die Empa finanziert hat, konnte ich mein Projekt vor 1500 Teilnehmern an den Nachhaltigkeits-Weltkongressen in Peking und Davos vorstellen. Ich hatte gute Gespräche mit Vertretern aus Singapur und London. Beide Städte versuchen vergeblich, dass massive Verkehrsproblem in den Griff zu bekommen. Auch am WEF in Davos konnte ich die Hügelstadt präsentieren. Aber wissen Sie, was das Problem ist?
Niemand wollte bezahlen.
Diese Manager sind keine Macher, das sind Statisten, die sich in ihrem Laufrad abstrampeln. Die können knapp ihren Namen schreiben und kreisen ansonsten permanent um ihr Ego. Es gibt in solchen Kreisen viel zu viele Statisten und zu wenig Hauptdarsteller. Einer dieser Manager sagte zu mir: «Das ist etwas für Hollywood.» Das ist eine grundverkehrte Einstellung. Mir geht es um mehr Gerechtigkeit und Austausch zwischen den Generationen – dafür ist eine sich selbst verwaltende Genossenschaft die perfekte Organisationsform. Und wenn jeder eine sinnvolle Aufgabe in der Gemeinschaft wahrnimmt, müssten die Leute nicht vier Stunden pro Tag vor dem Fernseher sitzen. Seien wir doch ehrlich: Wir leben in einer verkehrten Welt. Wir leiden unter Lärm, Stress und Sinnmangel und verschleudern unendlich viele Ressourcen durch weite Wege und sinnlosen Konsum.
Was entgegnen Sie Leuten, die sagen, Erich Chiavi sei ein Phantast?
Wenn wir uns anschauen, wohin uns die Vernünftigen gebracht haben, braucht diese Welt dringend ein paar Verrückte – das hat schon George Bernard Shaw festgestellt. Wer kein Phantast ist, hat keine Begeisterung, keine Kraft. Aber ich bin kein weltfremder Schwärmer, der nichts auf den Boden bringt. Schon als 18-Jähriger habe ich eine neuartige Skibindung entwickelt für die Firma Marker. Weiter bin ich Erfinder einer patentierten Wasserdüse, die den Wasserverbrauch um 90 Prozent reduziert. Und ich habe mit Nanopartikeln ein Weiss entwickelt, welches die Lichtreflexion um 18 Prozent erhöht. In meinem Atelier in Davos liegen noch so viele Projekte und Erfindungen – ich werde gar nicht mehr dazu kommen, zu Lebzeiten alle weiterzuverfolgen.
Sie werden 72-jährig. Hand aufs Herz: Werden Sie die Realisierung Ihrer Hügelstadt noch erleben?
Ich mag 72-jährig werden, aber ich fühle mich wie fünfzig. Und es gibt zwei Gründe für Zuversicht: Da ist erstens die Ministerin für Verkehr und Bau der Niederlande. Sie ist sehr an der Realisierung einer Hügelstadt interessiert. Die Holländer stehen sich ja wirklich auf den Füssen herum ; das Land ist gleich gross wie die Schweiz, hat aber mehr als doppelt so viele Einwohner. Derzeit wird ein grösserer verschlickter Landstrich, auf dem deutsche Giftfässer liegen, erschlossen. Wenn die Räumung gelingt, soll dort eine Hügelstadt realisiert werden. Meine zweite Hoffnung ist China. Dort ist der Leidensdruck aufgrund des enormen Verkehrs- und Luftverschmutzungsproblems gross. Ich habe mich mehrmals mit Wissenschaftlern aus China getroffen. Vielleicht geht es dort am Ende sogar schneller als in Holland. In der Schweiz hängt es stark davon ab, ob die Waadtländer Regierung mitzieht. Es wäre für die Westschweiz eine grosse Chance, den Zürchern einmal einen Schritt voraus zu sein.
Eine indiskrete Frage zum Schluss: Von was haben Sie in den letzten 14 Jahren eigentlich gelebt?
Ich arbeite seit 20 Jahren regelmässig für IBM und andere Grosskunden und habe darüber hinaus ein paar Lehraufträge inne. Meine Absicherung ist aber mein Schrägdachhaus mit vier kleinen Wohnungen hier in Davos. Ich konnte dieses Haus vor 34 Jahren mit nichts bauen, weil mir ein Banker vertraute und ein Darlehen für die Finanzierung gab. Da ich all die Jahre sehr fleissig war, ist das Haus heute abbezahlt. So kann ich es mir leisten, das zu tun, was mir wirklich wichtig ist. Jetzt muss ich aber los, ich treffe den Landammann, um mit ihm zu besprechen, wie man den von Autoabgasen verschmutzen Schnee reinigen kann. Während des WEF waren täglich 600 Audi-Limousinen unterwegs – und unsere Leute kippen den Schnee mit all dem Kohlenmonoxid einfach in den See. Ich habe hier eine Erfindung im Köcher, die für alle Skigebiete einen grossen Fortschritt brächte. Ich denke, ich sollte sie bald patentieren lassen.
8. Februar 2014