Evelyne Coën, Unternehmerin und Expertin für berufliche Neuorientierung
«Es bringt nichts, den Platz im Gefängnis zu optimieren»
Evelyne Coën weiss aus eigener Erfahrung, was es heisst, etwas Gewohntes aufzugeben und Neues in Angriff zu nehmen. Wenn sie Menschen in der Neuorientierung begleitet, begnügt sie sich nicht mit Kosmetik, sondern führt die Kunden durch ihre Angst, Trauer und Wut. Wer sich auf dieses «heilsame Erschrecken» einlasse, mache den Weg frei zu mehr Lebensfreude und Kreativität, sagt die 68-Jährige.
Interview: Mathias Morgenthaler Foto: ZVG
Kontakt und weitere Informationen:
www.cross-roads.ch und evelyne.coen@cross-roads.ch
Frau Coën, Sie begleiten Menschen in der Neuorientierung. Warum tun wir uns so schwer mit beruflicher Veränderung?
EVELYNE COËN: Weil sehr viele Menschen in einer Schachtel eingesperrt sind, einem Gefängnis, aus dem sie nicht herausfinden. Die Mauern dieses Gefängnisses heissen Schule, Ausbildung, Beruf, Familie – und was verkümmert, ist die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Viele Kunden bringen viel Wut und Frustration mit, wenn sie zu mir kommen. Sie haben zahlreiche Coachings und Seminare hinter sich, sind aber immer innerhalb der Schachtel beraten worden. Es bringt aber nichts, den Platz im Gefängnis zu optimieren. Das Ziel muss doch sein, den eigenen Lebenstraum zu realisieren. Manche brauchen dann jemanden, der sie beim Gang über die Wegkreuzung einer schwierigen Entscheidung begleitet.
Das, was Sie Gefängnis nennen, ist doch ein normaler Anpassungsprozess, der zum Erwachsenwerden gehört. Wir legen uns in vielem fest, gehen Verpflichtungen ein.
Was ist daran normal? Kleine Kinder sind voller Neugier, Kraft und Ideen. Dann kommen sie in die Schule und durchlaufen diesen Anpassungsprozess. Die Neugier und Lust wird ihnen gründlich ausgetrieben, sie verlieren den natürlichen Antrieb, lernen den Ernst des Lebens kennen, den Leistungsdruck, die Unterscheidung zwischen richtig und falsch, vernünftig und unvernünftig. Bald weicht die Begeisterung der Sorge, nicht gut genug zu sein, keinen sicheren Job zu finden, den Erwartungen der Eltern und Lehrer nicht zu genügen. Dieses Schulsystem produziert viele Verlierer, gestresste Kinder und Eltern, Ritalin-Konsumenten, demotivierte und gewalttätige Jugendliche. Und jene, die als Musterschüler durch Schule und Studium eilen, sitzen dann mit 40 oder 50 Jahren bei mir in der Praxis und sagen: «Ich habe alles glänzend bestanden, aber jetzt habe ich einen Job, den ich gar nie wirklich wollte, und ein Leben, das mich nicht erfüllt.»
Was müsste sich ändern?
Das Unglück beginnt mit der Schule. Ich bin sehr jung Mutter geworden und konnte nicht ertragen, wie meine Kinder gelitten haben in der Staatsschule. Also habe ich 1973 in Mägenwil eine der ersten freien Schulen in der Schweiz mitbegründet. Sie orientierte sich stark daran, welche Interessen und welche Motivation die Schüler mitbrachten – es war beeindruckend zu erleben, wie meine Töchter in diesem Umfeld aufblühten. Meine jüngeren Enkel gehen in die Villa-Monte-Schule in Galgenen. Da sind 110 junge Menschen zwischen 3 und 18 Jahren zusammen, es gibt keine Lehrer im klassischen Sinn, sondern Ansprechpersonen. Die Kinder lernen nach eigenem Rhythmus, sie wählen sich ihre Aufgaben aus, der Antrieb ist ihre Motivation, nicht der Druck von aussen. Sie gehen jeden Tag mit unglaublich viel Freude und Solidarität ans Werk, arbeiten stundenlang konzentriert an ihren Interessen. Diese jungen Menschen werden mich später nicht brauchen. Die Musterschüler der Staatsschulen schon. Kürzlich war wieder ein Topmanager hier und sagte zu mir: «Ich bin wirklich zu alleroberst auf der Leiter angekommen, aber ich habe die Leiter leider an die falsche Hausmauer gestellt. Ich habe mein ganzes Leben, meine ganze Energie in etwas investiert, das nur Leere zurücklässt.»
Beraten Sie Schulen, um dort etwas zu verändern?
Ja, aber es ist schon schwer genug, bei Menschen Veränderungen in Gang zu bringen – in einem System ist es fast unmöglich. Ich hatte vor einiger Zeit ein Mandat in einem Elite-Gymnasium, das etwas gegen die vielen Vandalismus- und Gewaltvorgänge unternehmen wollte. Ausgeschrieben war das als Eventtag. Ich hatte einen Tag Zeit mit 88 jungen Männern, die eine enorme Wut und Aggression an den Tag legten. Ich wollte von ihnen wissen, was sie so wütend macht und was sich ändern müsste, damit sie gerne zur Schule kämen. Das Hauptproblem war, dass die Schüler das Gefühl hatten, sie könnten sich nicht einbringen, es höre ihnen niemand zu, nehme sie niemand ernst. Sie wollten zum Beispiel diskutieren mit den Lehrern statt nur Wissen schlucken und wieder ausspucken; und sie hätten den kahlen Betonbau gerne etwas schöner gestaltet, Sofas aufgestellt, Farbe in den grauen Schulalltag gebracht. Innert weniger Stunden verwandelten sich diese angeblich destruktiven, demotivierten Männer in Menschen, die konzentriert und engagiert Projektideen entwickeln.
Und was wurde aus den Ideen, die an diesem Tag entstanden sind?
Das, was mir die Schüler voraussagten: nichts. Ich erzählte den Eltern an einem Informationsabend über die Leiden und Ängste ihrer Söhne. Die fielen aus allen Wolken und wollten mit anpacken. Dann kam der Rektor, sagte gönnerhaft, die Frau Coën habe das ganz toll gemacht, aber es sei sicher allen klar, dass das ein Elite-Gymnasium sei hier und kein Ort für Kuschelpädagogik. Die Lehrer waren sich einig, dass es ungehörig war, den Jugendlichen so viel Hoffnung zu machen. Das spätere Leben funktioniere auch nicht wie ein Ponyhof. Müssen wir den Schülern denn alle Persönlichkeit abtrainieren, damit sie sich später reibungslos in die Maschinerie der Arbeitswelt einpassen? Die Pharmaindustrie und die Wirtschaft leben gut von diesem Menschenbild, aber ich glaube nicht, dass es zur positiven Entwicklung unserer Gesellschaft beiträgt. Ist es denn normal, dass wir den Kindern als Erstes beibringen, wann sie spielen dürfen und wann sie lernen müssen, und dass das zwei komplett getrennte Bereiche sind? Ist es wirklich verwunderlich, dass so keine freien Menschen mit Zivilcourage heranwachsen, sondern angepasste, manipulierbare Funktionserfüller und Konsumenten?
Wie begleiten Sie Ihre Kunden in der Neuorientierung?
Ich arbeite nicht nach einer Methode, jedes Seminar, jede Beratung verläuft anders, jeder Kunde will anders erreicht werden. Der gemeinsame Nenner ist: Ganz unten liegen die Angst und die Sehnsucht verborgen – und solange wir diese Essenz nicht erreichen, bleibt alles Kosmetik. Grundsätzlich geht es darum, ein Gefühl für die eigene Kraft, für Lebenslust zu entwickeln. Ich habe Hunderte von Managern gefragt, ob sie ihren Job gerne machen. 90 Prozent davon antworteten mit Nein. Wenn ich fragte, warum sie ihn dann machen, fragten sie zurück: «Was soll ich sonst tun?» Ich fragte sie: «Was möchten Sie denn tun, wenn alles möglich wäre?» Da schilderten diese Manager mir Herzenswünsche und Visionen, die mich buchstäblich umhauten. Wenn nur jeder Zweite diesen Weg gegangen wäre, hätten wir eine wunderbare Gesellschaft, keine, die sich über Macht, Besitz, Neid und Verlustangst definiert.
Welche Angst hielt sie davon ab, diesen Weg zu gehen?
Im Kern ist es die Angst vor Liebesentzug und die Existenzangst. Als ich mit den Neuorientierungskursen begann, fragte ich mich, was ich gebraucht hätte, um als junge Frau angstfreier zu leben und mehr aus meinen Möglichkeiten zu machen. Eine Antwort war: Ich hätte Menschen in meinem Umfeld gebraucht, die nicht ständig sagen: «Das geht nicht», «Das ist bestenfalls eine Freizeitbeschäftigung», «Wo kämen wir hin, wenn das alle so machen würden?». Ich nenne das den Chor der Stimmen, die uns immer vorsingen, was nicht möglich ist. Diesen Chor gibt es nicht nur da draussen, es gibt ihn auch in unserem Kopf. Er zensuriert unser Denken und hat eine beengende Wirkung auf unser gesamtes Leben.
Kann man ihn auf stumm schalten?
Das kann man, aber das funktioniert auf Dauer nicht. Ich habe eine Übung entwickelt, die uns dazu befähigt, die Kraft des Negativen zu nutzen und in etwas Positives zu wandeln. Kennen Sie die japanische Kampfkunst Aikido? Da nutzt man die Kraft des gegnerischen Angriffs zur Verteidigung. Bei mir lernen die Kunden, ihre Angst und Wut zu nutzen und positiv auszurichten. Das ist eine Bewusstseins- und Gefühlsarbeit, keine rein analytische Sache. Es beginnt meist mit einem heilsamen Erschrecken. Wenn die Teilnehmer merken, wie sie sich wirklich fühlen und wie sich ihr Gefühl wandelt, wenn sie ihrer Sehnsucht Raum geben, dann fährt das buchstäblich in die Glieder. Manche stecken jahrelang im Dilemma fest und suchen auf intellektueller Ebene nach einer Lösung. Bei mir gehen sie durch ihre Angst, Trauer und Wut und entdecken dann ihre Kraft, ihre Lebensfreude. Da wird eine unglaubliche Lust und Kreativität freigesetzt. Natürlich braucht es dann auch wieder den Kopf, um die nächsten Schritte festzulegen, um der Vision eine Struktur zu geben.
Haben Sie selber die Unterstützung erhalten, die Sie gebraucht hätten?
O nein, ich habe alles auf die ganz harte Tour lernen müssen. Ich stamme aus einer Künstlerfamilie, mein Vater war Konzertmeister, arbeitete mit weltbekannten Künstlern zusammen – ein hochsensibler, talentierter, aber auch strenger, innerlich gebrochener Mann. Alle drei Monate sind wir umgezogen, da wachsen dir keine Wurzeln, ich musste immer wieder den Ort, die Schule, die Sprache, die Kultur wechseln, war öfter im Kinderheim und wurde in der Schule gehänselt und gequält von den anderen Kindern. Ich habe selber gesungen auf der Bühne, als Kind schon und dann mein Leben lang, bin jung Mutter geworden und habe die Kinder alleine gross gezogen, habe eine Schule mitbegründet, eine Stellenvermittlung für Frauen lanciert, war Theaterpädagogin, Musiklehrerin, Therapeutin und Seminarleiterin – und das alles ohne formale Ausbildung, aber mit viel Leidenschaft und Erfolg. Leider auch mit vielen Anfeindungen.
Es ist auch eine Provokation, wenn jemand auf so vielen Hochzeiten tanzt wie Sie.
Ja, das ist wohl so, die Leute denken dann: «Das kann gar nicht seriös sein, das ist bestimmt eine Hochstaplerin.» Dabei schlummern in uns allen so viele Talente. Aber wir haben kein Vertrauen in unsere Möglichkeiten, wir haben Angst vor unserem eigenen Licht. Und bereuen am Ende, wie viel ungelebtes Leben wir noch in uns tragen. Ich arbeite viel mit Vätern und Müttern. Es ist so wichtig, dass sie nicht ihre eigenen Ängste und Begrenzungen auf ihre Kindern projizieren, sondern ihnen ein glückliches Aufwachsen ermöglichen, sie darin bestärken, ihren eigenen Weg zu gehen. Ich habe ja damals nicht nur meine beiden eigenen Kinder gehabt, sondern noch mindestens zehn weitere Kinder mit aufgezogen, die kaum Support von ihren Eltern erhielten.
Haben auch Sie noch unrealisierte Berufsträume?
Aber sicher habe ich die, auch mit 68 Jahren! Ich möchte noch eine Akademie für verbindende Bildung gründen, einen Ort, wo diese andere Form des Lernens jenseits von Fächern, Disziplinen und Leistungsdruck gelebt wird. Und dann habe ich eine verrückte Idee für eine TV-Sendung im Kopf, die mir keine Ruhe lässt. Manche Dinge muss man über längere Zeit mit sich tragen – eines Tages ist die Zeit reif, und man begegnet den richtigen Menschen für die gemeinsame Umsetzung. Wer sich selber treu bleibt, dem ist der Zufall in der Regel günstig gestimmt.
14. Februar 2015