Felix Frei, Arbeitspsychologe und Unternehmensberater
«Führen ohne hierarchische Macht ist die Königsdiziplin»
Warum übernehmen Angstellte in Unternehmen so ungern Verantwortung und klagen dennoch über Stress? Der Psychologe Felix Frei entlarvt in seinem neuen Buch* die hierarchische Organisation als Wurzel vieler Übel und rät Unternehmen dazu, den Mitarbeitern mehr Verantwortung zu übertragen statt sie wie unmündige Kinder zu behandeln.
Interview: Mathias Morgenthaler Fotos: zvg/Alamy
Kontakt und weitere Informationen:
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Das Buch von Felix Frei
Felix Frei – Psychologe zwischen Wissenschaft und Praxis
Felix Frei studierte Psychologie mit den Nebenfächern Sozialpädagogik und Informatik an der Universität Zürich. Später war er Dozent für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Abteilung für Informatik der ETH Zürich sowie an den Universitäten Basel, Bern, Bremen und Zürich. Er ist Gründer und Mitinhaber der Unternehmensberatung AOC und Autor mehrer Managementbücher.
Herr Frei, Sie verkünden in Ihrem neuen Buch das Ende der Hierarchie. Erleben wir nicht vielmehr eine Renaissance der Hierarchie? Global dominante Unternehmen wie Amazon, Tesla oder auch Facebook leben doch davon, dass starke Führungsfiguren ihren Willen durchsetzen.
FELIX FREI: Diese Konzerne sind in der Tat sehr erfolgreich, weil charismatische Unternehmensgründer ihre Vision autoritär durchgesetzt haben und den Weg vorgeben. Ich behaupte nicht, es gebe bald keine solchen Hierarchen mehr. Ich zeige aber, dass die meisten Unternehmen, die primär hierarchisch organisiert sind, auf Dauer schlicht zu langsam und zu wenig flexibel sind, um in der digitalisierten Welt von morgen eine wichtige Rolle zu spielen.
Sie raten als Berater Ihren Kunden dazu, die Hierarchie und damit die Chefpositionen abzuschaffen?
Nein, aber ich bereite sie auf ein Problem vor. Heute befinden sich die meisten Unternehmen in permanenten Reorganisationsübungen. Das ermüdet die Mitarbeiter enorm, ändert aber nichts daran, dass Impulse des Marktes und die Kreativität der Mitarbeiter viel zu wenig in den Unternehmensalltag einfliessen. Es geht mir nicht darum, jegliche Hierarchie komplett abzuschaffen – einen Geschäftsführer zum Beispiel braucht es schon aus rein juristischen Gründen.
Worum geht es Ihnen denn?
Es geht darum, Führung vermehrt als Rolle zu verstehen und nicht als hierarchische Position. Und zwar als eine Rolle nebst anderen. Davon ist aber wenig zu sehen. Weil sich viele Chefs vor Kontrollverlust fürchten, zementieren sie die Hierarchie, die heilige Ordnung: Führen ohne hierarchische Macht ist die Königsdisziplin, die längst nicht jeder heutige Vorgesetzte beherrscht.
Es ist ja leicht nachvollziehbar, dass sich jemand, der sich über Jahrzehnte hochgearbeitet hat, nicht selber entmachten will.
Sicher, aber es ist absurd, wenn Manager permanent Eigeninitiative und Eigenverantwortung einfordern von ihren Untergebenen, faktisch aber Unterwerfung und vorauseilenden Gehorsam erwarten. Das heutige System ist voller Widersprüche. Chefs beklagen die Unselbständigkeit und Passivität der Mitarbeiter, entscheiden aber alles selber und deuten diesen Umstand noch als Indiz für ihre Unentbehrlichkeit. Es ist absurd, was manch ein CEO alles selber entscheidet. Und auf der Hierarchieebene unter ihm sitzen dann Manager, die in seinem Sinne entscheiden. Wie viel ökonomischer wäre es, wenn Mitarbeiter auf allen Ebenen vor Ort und kundennah entscheiden könnten? Natürlich muss man sich über die Spielregeln und Verfahren einigen, aber ein Hauptproblem der klassisch hierarchischen Unternehmen ist, dass Führung so stark personalisiert wird. Wer entscheidet, ist dann oft wichtiger als was entschieden wird.
Immerhin sind hierarchische Organisationen stabiler als solche mit flexiblen Projektorganisationen.
Hierarchie erzeugt Stabilität – und ist deshalb für stabile Umwelten geeignet. Unsere Welt ist aber unberechenbar geworden und sie verändert sich rasend schnell. Da bringt es nichts, intern der Kontrollillusion zu huldigen. Die heutige Stabilität in den Firmen hat einen hohen Preis. Sie besteht im Wesentlichen aus einem Joint Venture zwischen oben und unten. Die Manager oben wollen ihre Privilegien behalten, Macht ausüben und ihr Ego stärken. Die Mitarbeiter unten sind froh, dass sie geführt werden und keine Verantwortung übernehmen müssen, aber gleichzeitig eine einfache Erklärung parat haben für alles, was schief läuft: dass die da oben keine Ahnung haben und ihren Job schlecht machen.
Das klingt jetzt sehr holzschnittartig.
Wir reden auch von archaischen Verhaltensweisen. Die alte Wirtschaft spielt ein viel patronaleres Spiel, als sich die meisten bewusst sind. Erwachsene Menschen, die im Privatleben und in der Zivilgesellschaft viel Verantwortung übernehmen, verhalten sich bei der Arbeit nicht selten wie kleine Kinder. Sie betteln um die Aufmerksamkeit des Vorgesetzten, wollen Anerkennung erhalten, reagieren eifersüchtig auf Kollegen – da sind infantile Muster wirksam. Und die Chefs fühlen sich gleichzeitig ohnmächtig in ihrer gottväterlichen Einsamkeit, holen sich Rat bei Beratern oder Analysten und bauen die Vorschriften und Kontrollinstrumente aus, um die Illusion zu nähren, sie hätten die Sache tatsächlich im Griff.
Keine schöne Arbeitsrealität, die Sie da beschreiben.
Mündigkeit ist unteilbar. Wenn das Denken und Entscheiden einigen Wenigen vorbehalten ist, wird die Mehrheit in die Unmündigkeit gedrängt. Und die Chefs oben versuchen, mit immer grösserer Regeldichte, Mikromanagement und ausgebautem Controlling die Mitarbeiter zu steuern. Je ausgeklügelter das Regelgeflecht ist, desto anfälliger werden die Firmen für Manipulation und Betrug, weil man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht und sich niemand verantwortlich fühlt. Wenn Mitarbeiter sich nur noch in einem Korsett bewegen können, beginnen sie, das System zu unterlaufen.
Können Sie das konkretisieren?
Ein Beispiel: Ein früheres Swisscom-Konzernleitungsmitglied erzählte mir, er habe sich gewundert, als er nach seinem Ausscheiden aus der Firma als Kunde einen Swisscom-Shop betreten habe. Obwohl ausser ihm kein Kunde im Shop gewesen sei, habe er nach Bezug des Tickets gut 10 Minuten warten müssen, bis seine Nummer angezeigt worden sei. Der Kundenberater habe ihm dann freimütig erzählt, dass der erste Mitarbeiter, der am Morgen eintreffe, 30 Tickets beziehe. Das verschaffe dem Team einen gemütlichen Start in den Tag und sorge dafür, dass ihr Shop in der konzerninternen Statistik unter Aufwand pro Kunde am besten abschneide. Manager lachen gerne über diese Geschichte, ohne zu erkennen, wo sie selber gerade die Regeldichte erhöhen in ihrem Unternehmen.
Es trifft also zu, was Unternehmensberater Reinhard Sprenger moniert: dass viele Unternehmen sich zu stark mit sich und zu wenig mit dem Kunden befassen?
Ein grosser Teil der Energie der Angestellten und der Führungskräfte wird dafür verwendet, das System zu befriedigen. Man muss sich doch fragen, warum wir heute mehr arbeiten als unsere Eltern. 1930 prognostizierte der britische Ökonom John Maynard Keynes, in 100 Jahren müssten die Menschen nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten. Obwohl die Produktivität viel stärker gestiegen ist, als Keynes angenommen hatte, arbeiten viele von uns sogar noch am Abend und an den Wochenenden; die Initiative «6 Wochen Ferien für alle» hatte nicht den Hauch einer Chance. Was läuft da eigentlich falsch? Wohin versickert der ganze Produktivitätsfortschritt?
Wie lautet Ihre Antwort?
Nicht nur Unternehmen sind gefordert, ihr Menschenbild zu überdenken, sondern auch wir als Gesellschaft. Offenbar hat unsere Gesellschaft Angst vor freien Individuen, die nicht permanent arbeiten müssen. Der amerikanische Anthropologe David Graeber schreibt in seinem Buch über Bürokratie, mindestens jeder vierte Job sei sinnlos und gehöre in die Kategorie der Bullshit-Jobs. Er meint Berufsleute, die als Aufpasser agieren, andere bei der Arbeit überwachen und vermessen. Daraus erklärt sich meiner Meinung nach auch der hohe Stresslevel in Privatwirtschaft und ebenso in der Verwaltung. Ermüdend ist nicht primär die effektive Arbeitslast, sondern das System, das sich selber reproduziert. Überspitzt gesagt: Die Leute machen einen langweiligen Job ohne klar ersichtlichen Nutzen und sind am Abend erschöpft und frustriert, weil sie damit nichts Sinnvolles bewirkt haben.
Würde sich das automatisch verbessern, wenn Unternehmen weniger hierarchisch organisiert wären?
In den 1970er-Jahren gab es die Illusion, die Abschaffung der Chefs und anderer Autoritäten wäre eine grosse Befreiung. Daran zweifle ich. Wenn Mitarbeiter situativ mehr Verantwortung übernehmen und ohne formelle Macht führen, ist das anspruchsvoll und anstrengend. Nicht hierarchisch organisierte Unternehmen bieten weniger Glamour, es gibt nicht diese Fallhöhe und nicht dieses Korruptionspotenzial wie bei den heutigen Supermanagern. Aber Organisationen, die es ernst meinen mit dem Thema Eigenverantwortung, kommen nicht umhin, die Hierarchie als führendes Organisationsprinzip abzuschaffen. Für kleinere Unternehmen ist das sicher einfacher als für grosse – aber der Druck dazu wird gerade bei den grossen eher zunehmen. Denn vor allem sie sind viel zu schwerfällig geworden.
Will denn eine Mehrheit der Berufstätigen unternehmerisch und eigenverantwortlich handeln?
Das ist eine Frage des Menschenbildes und des Entwicklungsgrades der persönlichen Handlungsreife. Nicht jeder ist reif zur Eigenverantwortung. Meine Erfahrung ist, dass sich Menschen je nach sozialem Umfeld sehr unterschiedlich entwickeln. So gesehen ist es eine grosse Chance, dass die wirtschaftlichen Zwänge und technologischen Entwicklungen die Firmen zwingen werden, die Entscheidungen nicht mehr länger bei wenigen Chefs zu monopolisieren.
Und was ist mit jenen, die einfach einen Job machen wollen?
Die wird es weiterhin brauchen in Bereichen, die noch nicht automatisiert sind oder nicht automatisiert werden können. Aber dort sollten Arbeitgeber nicht Identifikation und Eigenverantwortung einfordern, sondern schlicht Dienst nach Vorschrift.
Warum gibt es so wenige Beispiele von erfolgreichen Unternehmen ohne formale Hierarchie?
Die gibt es sehr wohl. Die IT-Branche organisiert sich schon länger zunehmend agil und projektbezogen, viele Firmen machen Versuche mit dem Holacracy-Ansatz, bei dem die Autorität nicht mehr einzelnen Führungspersonen zugesprochen wird. Der frühere McKinsey-Berater Frederic Laloux schildert in seinem Buch «Reinventing Organizations» zwölf Beispiele von Unternehmen, die auf Hierarchie verzichten. Gemeinsam ist allen Unternehmen, dass es einen klar ersichtlichen Sinn gibt, der die Mitarbeiter leitet und motiviert. Das kann die Pflege kranker Menschen oder das Design von Homepages sein. Dass dort jeder Verantwortung übernimmt, heisst übrigens nicht, dass immer alle einer Meinung sein müssen. Es gibt andere Entscheidungsregeln als Mehrheit oder Konsens. Aber die setzen eine kommunikative Reife voraus, die man in der hierarchisch organisierten Firmenwelt nicht braucht und daher auch selten findet.
Was also sollen Unternehmen tun?
Das Schlimmste ist, innovative und unternehmerische Mitarbeiter zu suchen und sie dann wie unmündige Kinder zu behandeln. Stattdessen sollte man konsequent auf Eigenverantwortung setzen: Den Sinn der Unternehmung klarmachen, Prozesse aus Kundensicht definieren, Aufgaben als flexible Netzwerke organisieren, Führung als eine wechselnde Rolle unter anderen verstehen und einer interessanten und nützlichen Tätigkeit den Vorrang geben vor einer hierarchischen Laufbahn. Unternehmen müssen von innen her beweglich werden, statt von oben dauerreorganisiert zu werden.
8. Oktober 2016