Frederic Laloux, Autor des Bestsellers «Reinventing Organizations»
«Wer weniger steuern muss, kann mehr gestalten»
Es sei höchste Zeit, klassisch hierarchische Strukturen abzubauen, sagt der «New Work»-Vordenker Frederic Laloux. Formelle Macht erzeuge Distanz und führe dazu, dass ein Grossteil des Potenzials ungenutzt bleibe. Wer dagegen Kontrolle abgebe, gewinne Freiraum für kreative Tätigkeiten.
Interview: Mathias Morgenthaler Foto: Robert Rieger
Kontakt und weitere Informationen:
www.reinventingorganizations.com
Herr Laloux, Sie empfehlen Chefs, den Angestellten mehr Freiräume zu schenken. Passiert derzeit nicht genau das Gegenteil? Tendieren Manager in unsicheren Zeiten nicht dazu, noch mehr zu kontrollieren, noch enger über Zahlen zu führen, noch öfter selber zu entscheiden?
FREDERIC LALOUX: Ja, das ist leider so – vor allem dort, wo die Sinnhaftigkeit der Arbeit nur schwer ersichtlich ist. Viele der grossen Unternehmen betreiben ein Business, das eigentlich der Welt schadet und das im Grunde verschwinden müsste. Angenommen, ich bin der Chef der Abteilung Pestizide bei einem Chemiemulti: Ich verantworte Milliardenumsätze, aber wenn ich mich wirklich trauen würde, in Kontakt zu kommen mit meinen eigenen Gefühlen, mit meinen Hoffnungen für die Welt, müsste ich darauf hoffen, dass es mein Business bald nicht mehr gibt. In so einem Kontext ist es schwierig bis unmöglich, der Frage nach dem Warum Raum zu geben und Mitarbeiter einzuladen, sich stärker am Daseinszweck der Organisation auszurichten statt an Hierarchie und Marktanteilen und persönlichem Profit.
Sie schreiben in «Reinventig Organizations», dass starr hierarchische Unternehmen weniger gut auf die komplexe Welt reagieren können als solche, die stark auf Selbstorganisation setzen. Braucht es gar keine Hierarchie?
Entscheidend ist, dass wir klarer unterscheiden zwischen Machthierarchien und natürlichen Hierarchien. Mehr Selbstorganisation bedeutet nicht, dass alle gleich sind. Wer sich besonders gut auskennt und hohe Ambitionen hat, wer andere mitreissen kann, der wird weiterhin führen. Es ist aber höchste Zeit, klassische Hierarchien abzubauen, in denen ein Chef allein aufgrund seiner Position Macht über mich ausüben kann, entscheiden kann, ob ich ein Projekt umsetzen darf, eine Prämie bekomme oder rausgeschmissen werde. Das Ziel ist, dass jeder sich entwickeln, die grösste Version seiner selbst werden kann; und dort Führungsaufgaben übernimmt, wo er etwas bewegen kann.
Von welchen alten Marotten sollten sich moderne Unternehmen schleunigst trennen?
Überall dort, wo hierarchische Macht Distanz erzeugt, liegen grosse Teile des Potenzials brach. Starke Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass deren Leader allen Personen auf Augenhöhe begegnen, zuhören und Einladungen aussprechen anstatt Anweisungen zu erteilen. Das bedeutet auch: Es steht und fällt alles mit dem Menschen- und Organisationsbild der obersten Führungsetage. Deswegen macht es keinen Sinn, mit Management-Teams «New Work»- oder Selbstorganisations-Workshops durchzuführen, solange nicht geklärt ist, warum die das wollen. Wenn Führungskräfte einfach neue Werkzeuge suchen, um die Belegschaft zu «empowern» und im alten System noch etwas mehr aus den Leuten rauszuholen, führt das zu keiner evolutionären Unternehmenskultur.
Was braucht es dafür?
Menschen in Schlüsselfunktionen, die sich mit ihrer Führungsrolle auseinandersetzen und sich hinterfragen. Wer anderen Menschen zuhören will, sollte auch mit sich selber im Dialog sein – was bei vielen Managern, die von Termin zu Termin hetzen, nicht der Fall ist. Ich erinnere mich an ein Treffen mit der Chefin eines internationalen Unternehmens, das über 150'000 Angestellte beschäftigt. 90 Minuten unseres fünfstündigen Treffens hat sie mir zahllose Fragen zu meinem Privatleben gestellt. Das war unproduktiv und machte aus Managersicht absolut keinen Sinn. Aber für mich war es ein eindrückliches Beispiel, dass da jemand nicht nur auf den Output fokussiert ist, sondern trotz des Führungsdrucks ihre Menschlichkeit bewahrt hat.
Wenn Führung mehr zuhört und mehr einlädt statt Vorgaben zu machen, stellt sich rasch die Frage, ob die Angestellten nicht überfordert sind mit so viel Freiheit.
Sind sie nicht – da haben wir inzwischen genug Erfahrung, um das ganz deutlich zu beantworten. Schwieriger ist es vorübergehend für alle im mittleren Management, die sich nun die Frage stellen, wofür sie sich all die Jahre abgemüht haben, wenn die hierarchische Macht nun plötzlich an Bedeutung verliert. Deswegen sträuben sich ja so viele Unternehmen gegen echte Veränderung und richten lieber in einigen Abteilungen ein paar «New Work»-Inseln ein. Manchmal schiessen auch Führungskräfte erst mal ein Eigentor, weil sie verunsichert sind und nicht mehr wissen, wo sie überhaupt noch entscheiden, was sie noch steuern dürfen. Es ist für alle ein Abenteuer, alle wachsen mit der Zeit in ein neues Selbstverständnis hinein. Der Weg dahin führt für manche zuerst durch einen Trauerprozess – ähnlich wie bei mir, als mir eine alte Identität abhanden kam und ich nicht mehr als Coach arbeiten wollte.
Sie haben danach ein Buch geschrieben – was gibts für Alternativen für die Führungskräfte alter Schule?
Manche suchen sich einen neuen Job in einem Unternehmen, das noch nach den alten Mustern funktioniert. Jene, die sich auf die Transformation einlassen, stellen nach einer Zeit der Verunsicherung fest, dass sie wieder mehr Raum haben für kreative Arbeit. Wer weniger steuern und kontrollieren muss, kann mehr gestalten. Ein zweiter Effekt ist, dass viele früher oder später sagen: «Mir war gar nicht bewusst, wie viel Druck das bedeutet hat, nach oben gut auszuschauen und nach unten zu motivieren oder Druck aufzusetzen.» Da fällt bei den meisten eine grosse Last weg. Nach einigen Monaten würden sie um keinen Preis wieder in ihre alte, künstliche Managerrolle zurückkriechen.
Eine persönliche Frage zum Schluss: Was haben Sie in diesem Jahr Neues gelernt?
Ich habe mir vorgenommen, dass ich nur zwei Mal im Jahr weit reise und öffentlich spreche. Nun steht eine Reise nach Japan bevor. Dort ist mein Buch erst vor etwas mehr als einem Jahr erschienen und schon heute ein absurder Erfolg, ja ein richtiger Hype. Ich kenne die japanische Kultur persönlich gar nicht. Man sagt, sie sei sehr hierarchiegläubig, gleichzeitig aber auch sehr konsensgetrieben. Ich bin sehr gespannt, Japan besser kennenzulernen und zu erfahren, wie mein Buch und meine Ideen dort aufgenommen worden sind.
28. September 2019
Teil 1 des Interviews ist am 21. September erschienen.