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Ein Haus voller Geigen

Von Ruhestand will Hans-Martin Bader auch in seinem 72. Lebensjahr nichts wissen. Streichinstrumente zu bauen und zu restaurieren, das ist seit über 50 Jahren sein Lebensinhalt. Was er an Nahrung braucht, baut Bader auf einem eigenen Acker an, den er mit zwei Pferden pflügt. Zu Besuch in einer entschleunigten Welt ohne Internet, Fernsehen oder Kühlschrank. 

Text: Mathias Morgenthaler  Fotos: Sébastien Anex


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Da steht er vor seinem über 200 Jahre alten Bauernhaus und winkt. Einen Augenblick später ist er schon wieder verschwunden. Hans-Martin Bader, 71, der Geigenbauer mit bayrischen Wurzeln, verliert keine Zeit mit Förmlichkeiten. Er ist vorausgeeilt in seine Werkstatt und hat dort im Ofen ein Holzscheit nachgelegt. Es ist ein kalter Frühlingstag, vor wenigen Tagen hat es noch geschneit in Premier, dem 200-Seelen-Dorf im Jura.
Hier also arbeitet dieser Geigenbauer, von dem Berufsmusiker sagen, es gebe in ganz Europa keinen, der so viel Wissen über barocke Saiteninstrumente und so grosses handwerkliches Können vereine. Wenn er wirklich ein Ausnahmekönner ist, dann ist er ein Star ohne Allüren. Seine Werkstatt, in der er seit 42 Jahren Instrumente baut und restauriert, ist karg eingerichtet.
Neben dem Kaminofen wäre da nur noch ein kleines Sofa, das so etwas wie Gemütlichkeit ausstrahlen könnte, doch Platz zum Sitzen gibt es keinen darauf – die Schnecke eines Cellos wartet dort auf die weitere Verarbeitung.
An den Wänden und sogar vor dem Fenster hängen Dutzende von Geigen unterschiedlicher Grösse, dazu einzelne Geigenböden und -decken, die noch mit Seitenwänden ergänzt werden müssen, damit aus dem Ahorn- und Fichtenholz ein Klangkörper wird.

Auf den ersten Blick wird klar: Hans-Martin Bader will auch in seinem 72. Lebensjahr nichts von Ruhestand wissen. Es gibt jede Menge zu tun, davon zeugen die Teile einer Geige, die auf der Werkbank bereitliegen, die unzähligen Werkzeuge, die Merkblätter mit Masstabellen und das Arbeitsgewand, das er trägt.
Obwohl der Termin seit längerem vereinbart ist, wird der Besucher den Eindruck nicht los, sein Gastgeber würde lieber die Hände sprechen lassen als Fragen beantworten. Es gebe schon zwei Bücher und mehrere Fernsehsendungen über seine Handwerkskunst, hat er schon am Telefon mitgeteilt, eigentlich sei das meiste gesagt. Dann setzt sich der Meister doch an den kleinen Holztisch und fragt, was man denn wissen möchte.
Was bedeutet Arbeit für Sie, Herr Bader? Jetzt muss er doch kurz lächeln. Schliesslich antwortet er mit einem Satz, den ihm seine Grossmutter auf den Weg mitgegeben hat, als er noch ein Kind war: «Wenn du Freude an der Arbeit hast, hast du dein Leben lang Freude.»

Kein Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit
Er mache keinen Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit, sagt Bader, wenn er eines Tages nicht mehr tätig sein und nichts mehr schaffen könne, dann möchte er auch nicht mehr leben. Doch einstweilen gibt es noch viel zu tun.
Bader baut nicht nur auf Bestellung neue Geigen, Celli oder Kontrabässe und restauriert alle möglichen Streichinstrumente, sondern er verwandelt unabhängig von Kundenwünschen das selber gefällte Fichten- und Ahornholz, das er 10 bis 15 Jahre gelagert hat, durch liebevolle Handarbeit in Musikinstrumente. Er habe noch Holz für zwei weitere Leben auf Lager, sagt er wehmütig, aber er sei sich bewusst, dass diese spezielle Geschichte mit ihm hier enden werde, weil heute niemand mehr bereit sei, sich auf einen «derart nostalgischen Lebensstil» einzulassen.

Vieles im Leben von Hans-Martin Bader wirkt tatsächlich wie aus der Zeit gefallen. Er lebt auf seinem Bauernhof weitgehend als Selbstversorger, sammelt auf dem Dach sein eigenes Wasser, kultiviert einen Gemüse- und Obstgarten, pflanzt Kartoffeln und Getreide an, verarbeitet Letzteres selber zu Mehl und backt daraus im Holzofen sein eigenes Brot, hält Hühner und vier Schafe, ferner zwei Pferde, die er für den Ackerbau vor den Pflug spannt oder einsetzt, um die Ernte und das Brennholz einzubringen.

Auf viele technische Geräte, die in unserem Leben selbstverständlich sind, verzichtet Bader bis heute: In seinem Haus gibt es weder einen Kühlschrank noch einen Fernseher, kein Mobiltelefon und keine Internetverbindung, keine Uhr und keinen Wecker.
Dass er just in dem Moment vor dem Haus auftauchte, als der Gast aus dem Postauto stieg, ist trotzdem kein Zufall. Seine innere Uhr sei sehr exakt, sagt Bader, früher habe er seinen Kindern einen Franken angeboten für jede Minute, die er mit seiner Schätzung danebenliegen würde – und praktisch nie etwas zahlen müssen.

Ein einfaches, erfülltes Leben als Luxus
Seine vier Kinder sind längst erwachsen und weggezogen, auch ihre Mutter lebt nicht mehr hier; Bader ist zwar seit längerem wieder in einer Beziehung, verbringt den Alltag aber weitgehend allein. Und je mehr er von seinem Leben erzählt, desto dezidierter kommt er zum Schluss, dass diese Lebensform gar nicht nostalgisch, sondern im Grunde sehr modern sei.
Freiheit bestehe für ihn nicht darin, mehrmals pro Jahr ans andere Ende der Welt fliegen, sondern darin, eine stimmige Lebensart wählen zu können. Dass er sieben Tage pro Woche tätig sei und keine Ferien mache, empfinde er nicht als Einschränkung, sondern als Glück. «Ich habe ein einfaches, erfülltes Leben und bin frei in der Einteilung meiner Zeit», sagt Bader.

Je nach Jahreszeit, Auftragslage und Wetter lägen die Prioritäten anders, arbeite er mehr im Garten, auf dem Acker oder in der Werkstatt. Oder er repariere etwas im Haus.
«An manchen Tagen bin ich Schreiner, dann Maurer, dann wieder Landwirt, Zimmermann oder Bildhauer – alles in allem übe ich sicher gegen 35 Handwerksberufe aus.» Und an guten Tagen bleibt abends Zeit zum Musizieren oder Komponieren.
Einmal habe eine Frau aus dem Dorf bei ihm geklingelt und ihn zu einem Meditations-Workshop eingeladen. Dafür fehle es ihm an Zeit und Bedürfnis, habe er geantwortet, die Arbeit in der Natur, der Instrumentenbau und die Musik seien ihm Meditation genug.
Letztes Jahr habe er einen Ausflug nach Bern gemacht, erzählt Bader, und sich gewundert, wie viele Leute durch die Strassen oder auf Laufbändern in Fitnessclubs gerannt seien. «Mein Fitnessstudio ist die Natur, und ich schätze mich glücklich, dort Arbeit zu verrichten, die unmittelbar sinnhaft ist», sagt der 71-Jährige, der sein Leben lang nie einen Arzt hat aufsuchen müssen.

Bis zum 75. Geburtstag muss er einen Arzt finden
Ewig wird das nicht mehr so weitergehen, spätestens mit 75 wird er einen Arzt brauchen, der ihm seine Fahrtüchtigkeit bestätigt – ohne sein mit Solarstrom vom Dach betriebenes Auto möchte Bader dann doch nicht leben. Was die Werkzeuge für den Acker-, Garten- und Instrumentenbau betrifft, schwört er hingegen auf Tradition. «Viele Werkzeuge, die bei meinem Handwerk zum Einsatz kommen, verrichten seit über 200 Jahren verlässlich und effizient ihren Dienst», sagt Bader. «Die modernen Geräte dagegen sind sehr störungsanfällig und oft kaum zu reparieren.»
Handarbeit statt MaschineneinsatzAuch vor dem Geigenbau macht die Technologisierung nicht halt. Allein in China würden 300’000 Geigen pro Jahr produziert, standardisierte Anfängermodelle gebe es schon für wenige hundert Franken – «und nach kurzem Gebrauch entsorgen die Leute das Instrument im Sperrgut-Abfall», sagt Bader und verzieht das Gesicht.
Dann erhebt er sich, um dem Reporter und dem inzwischen dazugestossenen Fotografen einen Eindruck seiner Handwerkskunst zu vermitteln. Ausser einer einfachen Bandsäge, die beim ersten Zuschneiden des Holzes hilft, verzichtet Bader auf Maschinen, jeder weitere Arbeitsschritt wird in Handarbeit erledigt.
Gerade schneidet er mit einer kleinen Klinge die Futterleisten zu, kleine Holzleisten, die er zuvor in Wasser eingeweicht hat und die er nun sorgfältig mit Klammern innen am Zargenkranz anbringt, der Decke und Boden des Instruments verbindet. So wird die Fläche verbreitert, auf der später der Leim angebracht wird, der dafür sorgen wird, dass die einzelnen Teile des Instruments gut zusammenhalten.


180 Stunden Handarbeit für eine Geige
Für den Bau einer Geige braucht Hans-Martin Bader 180 Stunden Handarbeit, bei einem Cello sind es 400 Stunden. Die Verkaufspreise sind – gemessen an Aufwand, Erfahrung und handwerklicher Meisterschaft – moderat: 8500 Franken für eine Geige, 16’000 für ein Cello.

Baders Ehrgeiz besteht nicht darin, seine Instrumente zu Spitzenpreisen verkaufen zu können, ihm reicht es, wenn er mit den Einnahmen seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Entscheidend ist für ihn etwas ganz anderes: seinen eigenen Ansprüchen und der jahrhundertealten Tradition gerecht zu werden.

Der Geigenbau, erzählt Bader, während er weitere Futterleisten einpasst, sei im frühen 16. Jahrhundert als Weiterentwicklung der dreisaitigen Fideln aufgekommen, Ausnahmekönner wie Andrea Amati, Giuseppe Guarneri und Antonio Stradivari hätten im 16. und 17. Jahrhundert in Oberitalien die bis heute gültigen Massstäbe gesetzt.
Ab 1700 habe die Schaffenskraft für neue Modelle abgenommen, und es seien viele Kopien der Meisterwerke des Hochbarocks angefertigt worden. Bader selber hat sein Kunsthandwerk im bayrischen Mittenwald gelernt, dort, wo der Geigenbauer Matthias Klotz schon 1684 eine Werkstatt eröffnete.
Mittenwald ist eine Art Mekka des Geigenbaus. Hier hat Bader bei den allerbesten Lehrmeistern seinen Beruf erlernt, und dieser gründlichen Schule verdankt er es auch, dass er sich als einer von wenigen nicht nur auf den Neubau versteht, sondern auch auf die Restauration barocker Instrumente.

Was macht denn die Qualität einer hochwertigen Geige aus, Herr Bader? Auch nach zwei Stunden Gespräch gilt: Grosse Worte sind seine Sache nicht. Er habe Freude daran, seine Geigen «so elegant und so barock wie möglich» zu bauen, sagt er bloss.

«Er macht alles in totaler Hingabe»
In der Bestimmung der Umrisse, die dem Instrumentenkorpus seine charakteristische Form geben, der Boden- und Deckenwölbung, der Ausgestaltung von Wirbelkasten und Schnecke am Kopf des Instruments habe jeder Geigenbauer seine eigenen Vorlieben und seine eigene Handschrift, führt er aus, und es sei wichtig, dass all diese Dinge in perfekter Harmonie aufeinander abgestimmt seien. Auch nach 53 Jahren in diesem Beruf lerne er noch jeden Tag dazu.

Was Bader aus Bescheidenheit verschweigt, formuliert Jean-Paul Forclaz, einer der grössten Kenner barocker Streichinstrumente, ohne Umschweife: «Dieser Mann hat goldene Hände», sagt Forclaz, der in Siders eine beeindruckend vielfältige Instrumentensammlung unterhält, durch die man dank 3-D-Animation auf seiner Website virtuell spazieren kann.
Forclaz arbeitet seit 15 Jahren eng mit Bader zusammen. Ihm sei niemand bekannt, der über ein vergleichbares Wissen und Können verfüge, sagt Forclaz und ergänzt, ebenso beeindruckend seien Baders Bescheidenheit und sein Arbeitsethos. «Er macht alles in totaler Hingabe!»

Wie lange wird das noch möglich sein, und hat er vorgesorgt für den Fall, dass er seiner Arbeit eines Tages nicht mehr wird nachgehen können? Er denke nie an Alter oder Krankheit, sondern immer nur daran, was als Nächstes zu tun sei, antwortet Hans-Martin Bader.
Ein Leben ohne Arbeit und ohne Musik könne er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Deshalb werde er die Werkzeuge erst niederlegen, wenn man ihn mit den Füssen voran aus seiner Werkstatt trage. Bis dahin bleibt allerdings noch viel zu tun.


30. Mai 2024 (Ersterscheinung in «Schweizer Familie»