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«In der Wirtschaft wird der Jugendwahn zelebriert»

Ältere Arbeitslose haben es in der Schweiz besonders schwer, wieder eine Stelle zu finden. Speziell über 50-jährige Frauen müssten sich oft mit einem Kleinstpensum zufrieden geben, das sie in die Armutsfalle treibe, moniert Heidi Joos. Die 60-jährige Geschäftsführerin des Vereins «50plus out in work» hat selber erlebt, was es heisst, plötzlich nicht mehr gefragt zu sein.

Interview: Mathias Morgenthaler    Foto: zvg


Kontakt und weitere Informationen:
www.50plusoutinwork.ch oder info@50plusoutinwork.ch


Frau Joos, wie stark fällt der Jahrgang bei der Stellensuche ins Gewicht?
HEIDI JOOS: Werden ältere Personen arbeitslos, brauchen sie länger als Jüngere, um wieder eine Stelle zu finden – und zwar unabhängig von ihrer Qualifikation. In der Schweiz ist die Problematik besonders akzentuiert: Ältere Langzeitarbeitslose sind hierzulande länger arbeitslos als in den übrigen OECD-Ländern. Das ist ein eindeutiger Indikator für die Schwierigkeiten von Älteren bei der Jobsuche auf dem Schweizer Arbeitsmarkt. Im letzten Jahr wurden in der Schweiz 6000 Personen über 55 Jahre ausgesteuert.

So schlecht kann die Lage auf dem Arbeitsmarkt doch nicht sein. Immerhin nimmt die Schweiz bezüglich Beschäftigungsquote bei den Älteren im OECD-Vergleich Rang 5 ein.
Wir profitieren gegenwärtig davon, dass wir uns in den guten Zeiten nicht wie die umliegenden Länder erlaubt haben, früher den Ruhestand anzutreten. Betrachtet man die Beschäftigungsquote der älteren Frauen, belegt die Schweiz aber nur Rang 15. Gleichzeitig weisen wir die höchste Quote an Teilzeitarbeit im Alter aus. Rund 60 Prozent der älteren Frauen arbeiten in Kleinstpensen unter 40 Prozent.

Kommt die Wirtschaft damit nicht einem Bedürfnis der Berufstätigen entgegen?
Teilzeitjobs entsprechen sehr wohl einem Bedürfnis – dem jüngerer Männer, die Familie und Karriere unter einen Hut bringen möchten. Mit der Erfüllung dieses Anliegens tun sich aber die meisten Unternehmen schwer. Ältere Frauen hingegen hätten Zeit und Lust, mehr zu arbeiten. Doch sie kriegen die Jobs nicht.

Woran liegt das?
Das hat direkt mit der Altersstaffelung bei den Pensionskassen (BVG) zu tun. Für ältere Angestellte müssen Arbeitgeber markant höhere Beiträge entrichten als für jüngere. Ältere sind deshalb vor allem dann willkommen, wenn ihr Jahreslohn unter der Eintrittsschwelle in die Berufliche Vorsorge (BVG) liegt – aktuell sind das 21’150 Franken. Dadurch fallen die Beiträge ganz weg. Wir beobachten, dass ältere Frauen deshalb oft nur noch Teilzeitjobs erhalten. Meistens handelt es sich um Arbeit auf Abruf, wo die Stundenlöhne laut Seco-Studien rund 20 Prozent tiefer liegen als bei normalen Arbeitsverhältnissen. Ein weiterer Nachteil zeigt sich bei der Kündigung. Obwohl die Betroffenen Arbeitslosenbeiträge eingezahlt haben, sind sie in den meisten Fällen nicht berechtigt, Arbeitslosengeld zu beziehen, weil sich aufgrund der unregelmässigen Arbeitszeiten keine Normalarbeitszeit berechnen lässt. Die Zeche für unseren liberalen Arbeitsmarkt zahlen die betroffenen Frauen. Sie verbleiben im Alter ohne oder nur mit einer geringen Rente. Deswegen müsste Arbeit auf Abruf dringend gesetzlich geregelt werden.

Seit vielen Jahren wird vor Personalmangel aufgrund des demografischen Wandels gewarnt. Verbessert das die Chancen der älteren Stellensuchenden?
Solange günstige Arbeitskräfte aus dem EU-Raum angestellt werden können und die Altersdiskriminierung in der Schweiz nicht aufgehoben wird, entschärft das die Lage nicht. Es fehlt in der Schweiz am politischen Willen, etwas zu tun. Der Bundesrat hat zwar vor vier Jahren festgehalten, die Integration jener, die frühzeitig aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, sei wichtig. Es herrscht aber der Irrglaube vor, der liberale Arbeitsmarkt löse alle Probleme von selber. Dabei zeigt das Beispiel Finnland, wie viel staatliches Engagement bewirken kann. In Finnland haben Wissenschaftler und Arbeitsmarktbehörde unter Leitung des erfahrenen Arbeitsphysiologen Juhani Ilmarinen das 470-seitige Strategiepapier «Towards a longer worklife» entwickelt. Es beschreibt, wie die Arbeitgeber sich auf die zunehmende Überalterung der Bevölkerung einstellen, wie Arbeitsplätze den Bedürfnissen der Älteren angepasst werden können. Warum engagiert sich die Schweiz, eines der reichsten Länder der Welt, in dieser Frage nicht? Stattdessen wird hier in der Wirtschaft noch immer der Jugendwahn zelebriert.

Sie übertreiben.
Nein, ich erlebe täglich solche Beispiele. Aktuell begleite ich zum Beispiel eine 50-Jährige, die jahrelang im Back-Office einer Grossbank tätig war und jetzt auf Stellensuche ist. Bei den ausgeschriebenen Stellen, die für sie in Frage kämen, steht überall im Anforderungsprofil, es würden Kandidaten zwischen 19 und 28 Jahren gesucht. Bewirbt man sich trotzdem, lautet die Antwort der Personalberater meistens: «Ihre vielseitigen Kenntnisse haben bei uns einen guten Eindruck hinterlassen. Doch unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass unsere Kunden jeweils jüngeren Bewerbern den Vorzug geben.» Das ist ein gesellschaftliches Dilemma. Wir sollten deshalb nicht so tun, als sei die Altersarbeitslosigkeit ein individuelles Unglück, ein Vermittlungsproblem; als reiche es aus, die Beratung oder den Druck auf die Bewerbenden ein wenig zu erhöhen. Damit lenkt man von den tiefer liegenden Ursachen ab und gibt den Betroffenen das Gefühl, sie strengten sich zu wenig an, sie selber seien das Problem.

Was sind die Folgen davon?
Wir beobachten immer wieder, wie Betroffene sich zurückziehen, sich schämen, krank werden oder in eine Klinik eingewiesen werden. Ökonomisch ist die Rechnung schnell gemacht: Viele Langzeitarbeitslose versuchen nach der Aussteuerung, sich mit Temporärjobs oder in Selbständigkeit über Wasser zu halten. Sie verdienen aber nicht genug, um damit den Lebensunterhalt bestreiten zu können. So bleibt gerade alleinstehenden Frauen nichts anderes übrig als der Gang aufs Sozialamt und das Arrangieren in der Altersarmut.

Was müsste sich denn Ihrer Meinung nach ändern?
Die Analyse der Seco-Zahlen zeigt, dass heute im Alter 45plus rund 10 000 Personen mehr ohne Job beim Arbeitsamt gemeldet sind als vor drei Jahren. Zusätzlich werden mehrere Tausend jährlich ausgesteuert und zehren von ihren Vermögen oder tarnen die Arbeitslosigkeit mit einer Schein-Selbständigkeit. Diese Entwicklung steht klar im Zusammenhang mit der Einführung der Personenfreizügigkeit. Ohne Inländervorrang, Antidiskriminierungsgesetz und altersneutrale Pensionskassenlösung werden auf dem Arbeitsmarkt weiterhin Ältere durch Jüngere ersetzt. Das ändert sich nicht von alleine. Politische Massnahmen sind gefragt, doch davor drücken sich die Sozialpartner, die beim Bundesrat am runden Tisch waren, mehrheitlich.

Sie wurden selber vor 10 Jahren entlassen und konnten danach nicht mehr richtig Fuss fassen im Arbeitsmarkt. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Ich war früher in der Privatwirtschaft tätig und übte im Alter von 50 Jahren eine Führungsfunktion in einer kantonalen Arbeitsmarktbehörde aus. Es gab einen Führungswechsel auf oberster Ebene. Der neue Chef fand, mein dynamischer Stil passe nicht zu seiner Führungskultur. So stand ich plötzlich auf der Strasse und fand trotz weit über 100 Bewerbungen keine Stelle mehr. Ich sei überqualifiziert, hörte ich oft. Mein reich gefüllter Rucksack wurde als Hypothek betrachtet. Ich bildete mich im Bereich Coaching, Training und Yoga weiter und dachte, das sei in Kombination mit meiner Berufserfahrung ein solides Fundament für eine selbständige Tätigkeit. Im Gesundheits- und Weiterbildungsbereich hat man aber einen schweren Stand als Einzelkämpferin im Wettbewerb mit grossen Playern. Vor drei Jahren gründeten wir den Verein «50plus out in work», damit das Thema auf die politische Traktandenliste kommt.

Sind Sie als Geschäftsführerin für Ihre Arbeit bezahlt?
Nein, es ist weitgehend eine ehrenamtliche Tätigkeit. Wir haben Mühe, finanzielle Unterstützung zu bekommen – vermutlich auch, weil wir politisch Stellung nehmen. Viele Gönner investieren grundsätzlich lieber in der Jugendarbeit, das ist besser fürs Image. Ich lebe heute am Existenzminimum und habe meinen Lebensstil entsprechend angepasst. Die Arbeit ist aber sehr erfüllend. Wir haben Selbsthilfegruppen in der Zentralschweiz, in Zürich und St. Gallen gegründet, eine weitere in Bern wird folgen. Kürzlich gelang einer Frau aus einer unserer Selbsthilfegruppen mit über 50 der Quereinstieg als Busfahrerin. Sie musste viel Überzeugungsarbeit leisten, zuerst bei der Zulassung zur Ausbildung, dann bei der Bewerbung. Heute macht sie einen sehr guten Job. Ich wünsche mir mehr solche Beispiele. Und ich träume von einer Schweiz, in der ein würdiges Altern mit Arbeit und Wohlbefinden möglich ist.


20. Juni 2015