Jacqueline Urbach, Unternehmerin und Erfinderin der farbigen Kontaktlinse
«Denken ist meine Nahrung, Probleme lösen mein Jungbrunnen»
Jacqueline Urbach wollte Filmregisseurin werden, lernte aber auf Geheiss ihrer Mutter Optikerin. Mit 24 Jahren wanderte sie in die USA aus, wo sie zur Unternehmerin wurde und 1966 die ersten farbigen Kontaktlinsen entwickelte. Als Unternehmerin scheute Jacqueline Urbach weder den Kampf mit Behörden noch den Transport von Dollar-Noten im Reisekoffer. Später übergab sie das Kontaktlinsen-Geschäft ihrem Sohn und machte sich als Bildhauerin und Schmuck-Designerin einen Namen. Vor zehn Jahren stieg die damals über 70-Jährige wieder in die Firma ein, um den Verkauf übers Internet zu forcieren. Auch mit über 80 Jahren verschwendet Urbach keinen Gedanken ans Aufhören. Arbeit ist für sie «keine Pflicht, sondern eine Existenzform».
Interview: Mathias Morgenthaler Foto: zvg
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Frau Urbach, Ihr Alter ist ein gut gehütetes Geheimnis, aber es heisst, Sie seien mit über 80 Jahren noch täglich in Ihrer Firma in Dübendorf anzutreffen.
JACQUELINE URBACH: Ja, natürlich, soll ich etwa zuhause in einem Sessel sitzen und darauf warten, dass ich alt und gebrechlich werde? Ich fühle mich wie 50, Denken ist meine Nahrung, Probleme lösen mein Jungbrunnen. Heute habe ich den kreativsten Job, den ich mir vorstellen kann. Es ist fantastisch, was man alles lernt, wenn man ins Online-Business einsteigt. Da verschwendet man keinen Gedanken ans Aufhören. Ich habe mein Leben lang immer meine Hobbys zum Beruf gemacht. Deswegen ist die Arbeit keine Pflicht, sondern eine natürliche Existenzform für mich.
Das war damals bei Ihrer Berufswahl noch keine weit verbreitete Haltung. Warum sind Sie Optikerin geworden in den 1950er-Jahren?
Ich hatte ganz andere Träume, wäre gerne als Regisseurin zum Theater oder noch lieber zum Film gegangen. Meine Mutter machte mir aber klar, dass das ein Hungerberuf für Taugenichtse sei und ich besser etwas Richtiges lerne. Sie empfahl mir, eine Optikerlehre in Angriff zu nehmen – und damals machte man, was die Eltern rieten. Für mich war es kein Vergnügen, eher eine Pflichtveranstaltung. Ich wusste schon früh, dass ich Unternehmerin werden wollte. Meine Eltern betrieben in Zürich im Kreis 4 einen Kleiderladen und hatten mir beizeiten beigebracht: «Lieber isst du nur trockenes Brot und bist selbständig, als angestellt zu sein und ein Butterbrot zu essen.»
Hat Sie dieser Glaubenssatz veranlasst, im Alter von 24 Jahren in die USA auszuwandern?
Nein, ich wollte Englisch lernen, das gehörte sich einfach. Die USA lockten mich mehr als England, auch weil ein Onkel dort lebte. Die ersten drei Jahre in New York waren hart. Ich arbeitete fast pausenlos und war dennoch nahe am Verhungern. Nach drei Jahren dachte ich: Wenn schon verhungern, dann lieber an der Sonne. So lernte ich in drei Stunden Autofahren und fuhr schliesslich in 10 Tagen von New York nach Los Angeles. Dort bin ich mit 300 Dollar angekommen – und gründete 1959 mit 4000 Dollar meine erste Firma. Mein Onkel hielt das für sehr unvernünftig, aber ich war jung und neugierig und dachte keinen Moment daran, was alles schief gehen könnte. Wenn du nichts hast, kannst du auch nichts verlieren.
Not macht wirklich erfinderisch?
Diese Erfahrung habe ich immer wieder gemacht. Meine Eltern waren nicht wohlhabend und zudem sehr praktisch veranlagt. Zum Geburtstag gabs Strümpfe oder einen Pullover, kein einziges Mal etwas zum Spielen. Also war ich gezwungen, mir meine Spielsachen selber auszudenken und zu basteln. Ich erinnere mich an Kasperli-Figuren, die so entstanden sind. Ich organisierte Vorstellungen bei uns, kassierte 20 Rappen pro Eintritt, ein erstes Taschengeld. Von da an habe ich mich immer nach der Decke gestreckt.
Wie gelang es Ihnen, die 4000 Dollar Startkapital zu vermehren?
(Lacht) Erst einmal verwandelten sich diese 4000 Dollar in 20‘000 Dollar Schulden. Anfänglich verkaufte ich Brillen, dann kam ich mit den Pionieren der Kontaktlinsen-Entwicklung in Kontakt und war sofort begeistert vom Potenzial dieser Sehkorrekturen. Ich kaufte vom übrig gebliebenen Geld eine Drehbank und bastelte drei Monate lang praktisch Tag und Nacht, bis ich etwas Kontaktlinsenähnliches vor mir hatte. Ich kann unglaublich stur und ausdauernd sein, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe – das ist vielleicht die wichtigste Gabe, die der Liebe Gott mir geschenkt hat. In der Folge brauchte ich zwei Tage, um eine Linse herzustellen, aber der Aufwand lohnte sich, denn die Optiker liebten meine Produkte. So gelang es mir dank den harten Kontaktlinsen, das Geschäft auszubauen und 15 Mitarbeiter anzustellen. Gegönnt habe ich mir nichts – jeder Cent wurde reinvestiert.
Und wie kam die Farbe ins Spiel? Sie gelten heute als Erfinderin der farbigen Kontaktlinsen?
Das habe ich einer schicksalhaften Begegnung im Jahr 1966 zu verdanken. Eines Tages sah ich eine Frau mit wunderschönen braunen Augen. Ich musste mehrmals hinschauen, um zu verstehen, was diese braunen Augen so besonders machte. Auf der Iris gab es zwei winzige gelbe Flecken, die wie goldene Pünktchen aussahen. Dieses Glitzern in den Augen liess mich nicht mehr los. Es erinnerte mich an den Glimmer, den Stars und Sternchen bei besonderen Anlässen auf den Augenlidern trugen. Ich war wild entschlossen, die Goldpigmente in meine Linsen einzubauen. Schon die ersten Versuche brachten spektakuläre Resultate. Ich war euphorisiert, weil ich spürte, dass ich mit dieser Innovation einen gewaltigen Tiger am Schwanz hielt, wie die Amerikaner sagen. So experimentierte ich weiter, mit Blau, Grün und Violett, machte viele Testserien und liess die Erfindung patentieren. Doch dann kam etwas Anderes dazwischen.
Unter Langeweile haben Sie bis heute nie gelitten oder?
Kennen Sie die Geschichte der jungen Frau, die vom Deck eines Luxusdampfers in die Wellen fiel? Plötzlich hörte man den Ruf «Mann über Bord» und alles blickte aufs Meer hinaus. Weit draussen konnte man jemanden erkennen, der gegen die Wellen ankämpfte und dem es schliesslich gelang, die junge Frau zu retten. Es zeigte sich, dass der Lebensretter ein kleiner, alter Mann war, während die junge Frau sich als einzige Tochter eines reichen Königs herausstellte. Als dieser dem Lebensretter grossmütig einen Wunsch erfüllen wollte, antwortete der alte Mann: «Ich möchte nur wissen, wer mich ins Wasser gestossen hat.» Mir ging es ähnlich: Ich fand mich stets von Neuem im Wasser wieder und musste dann schwimmen, um zu überleben. Jedenfalls musste ich das Projekt Farblinse zurückstellen, weil in dieser Zeit die weichen Linsen aufkamen und das Verkaufspotenzial dort wesentlich grösser war. Also stürzte ich mich für die nächsten Jahre in die Entwicklung des weichen Linsenmaterials.
Haben Sie nie gedacht, das könnte Ihre Möglichkeiten übersteigen?
Damals noch nicht. Ich hatte zwar keine Ahnung von Chemie, aber ich holte mir in der Bibliothek zehn Bücher, die sich mit der Herstellung von Plastik befassten. Nach und nach richtete ich mir ein eigenes Labor ein, mit Destillations-Anlage, Vakuumofen, Waage, Trichter und vielen anderen Gerätschaften. Ist es nicht unglaublich, wie viel der Mensch in kürzester Zeit lernen kann, wenn er ein Ziel vor Augen hat? Ich arbeitete während Monaten 16 Stunden pro Tag und hatte eines schönen Tages eine erste eigene weiche Kontaktlinse vor mir. Als ich sorgfältig daran zog, brach sie aber sogleich entzwei. So musste ich nochmals von vorne beginnen – und ahnte in diesem Moment nicht, dass die wirklichen Probleme erst noch bevorstanden.
Warum gelang es Ihnen nicht, aus der Innovation Profit zu schlagen?
Man sollte die Rechnung nie ohne Behörden und Juristen machen. Als wir nach der Patentierung in einer grossen PR-Aktion unseren Kunden mitteilen wollten, wir könnten als einer der ersten Linsen-Hersteller auch weiche Linsen anbieten, erreichte uns eine Hiobsbotschaft: Die Food and Drug Administration (FDA) unterstellte die weichen Kontaktlinsen dem Medizinalgesetz – es galten fortan die gleichen Auflagen wie bei der Markteinführung eines neuen Medikaments. Für einen kleinen Betrieb war es praktisch unmöglich, all diese Auflagen zu erfüllen. Wir knieten uns trotzdem rein. Es kostete mich sechs Monate Arbeit und die teuren Dienste einer Consulting-Firma, ein den Vorgaben entsprechendes 50-seitiges Gesuch zu erstellen. Nach drei Monaten kam die ernüchternde Antwort: Gesuch abgelehnt.
Ein Grund zu kapitulieren?
Nein, wo denken Sie hin, wir begannen nochmals von vorne. Vier Monate später reichten wir ein 250-seitiges Gesuch ein, beglaubigt unter anderem durch einen Feldversuch an 40 Hasen. Und siehe da, weitere vier Monate später erhielten wir die Erlaubnis, unsere weichen Linsen unter strengsten Auflagen an 20 ausgewählte Kunden zu verkaufen. Die finanzielle Lage war nach den immensen Vorleistungen aber mehr als angespannt, so dass wir zwischenzeitlich ohne Erlaubnis auch an einen italienischen Kunden verkauften, wo die Zahlungsmoral sehr zu wünschen übrig liess. Es war eine intensive Zeit, ein permanenter Kampf ums Überleben mit teilweise filmreifen Szenen. Einmal flog ich nach Rom, um Schulden einzutreiben, und kehrte mit einem Koffer voller Dollar-Scheine wieder zurück. Bald aber wurde mir klar: Ohne starken Partner konnten wir nicht überleben in diesem umkämpften Business.
Und da lernten Sie die Juristen besser kennen?
Eines Tages meldete sich ein Finanzmakler und teilte mir mit, die Firma Tool Research Engineering sei interessiert an meinem Unternehmen. TRE hatte 2000 Angestellte und war börsenkotiert. Rasch wurde klar, dass für TRE nur ein Kauf in Frage kam. In den nächsten neun Monaten erarbeiteten neun Juristen, drei von mir bezahlte und sechs von TRE, ein kompliziertes Vertragswerk. Ich erhielt einen zweijährigen Arbeitsvertrag mit Umsatzprovision, ein paar tausend Dollar in bar und den Rest in Aktien, die allerdings für drei Jahre gesperrt waren. Ich hatte am Schluss ein gutes Gefühl. Aber manche Zusicherungen sind nicht das Papier wert, auf das sie geschrieben sind. Nur wenig später teilte man mir nämlich mit, meine Anwesenheit im Unternehmen sei nicht mehr erwünscht. Ich war von einem Tag auf den anderen arbeitslos und erhielt weder Lohn noch Provisionen.
Der richtige Moment für die Rückkehr in die Schweiz.
Ja, ich hatte glücklicherweise immer einen Fuss in der Schweiz behalten und am Löwenplatz in Zürich Jahre zuvor ein Kontaktlinseninstitut gegründet. Ab 1979 engagierte ich mich mit aller Kraft dort. Es gab damals noch nicht viele Menschen, die beschwerdefrei Linsen trugen. Durch ein paar spezielle Marketingideen gewannen wir rasch Kunden dazu. Ich war die erste, die den Kunden im Laden Kaffee und Prosecco anbot und ihnen erlaubte, die Linsen gratis zu testen, bis sie sich wohlfühlten damit.
Als sich dauerhafter Erfolg einstellte, verloren Sie das Interesse und widmeten sich der Kunst.
So würde ich das nicht formulieren, aber nach der hunderttausendsten Kontaktlinse fand ich irgendwann, ich hätte nun genug Augen gesehen und würde mich gerne künstlerisch entfalten. Jeder Mensch hat so viele Talente, da ist es schade, wenn man ein Leben lang das Gleiche macht. So übergab ich die Verantwortung fürs Unternehmen meinem Sohn und schuf mit grosser Passion Skulpturen, Schmuck und eine eigene Uhrenkollektion. Ich war überrascht und glücklich, wie viel positives Echo ich darauf erhielt.
Umso erstaunlicher, dass Sie mit weit über siebzig noch einmal ins Kontaktlinsen-Geschäft zurückkehrten.
Das Geschäft mit den Linsen wurde in dieser Zeit immer schwieriger. Die Kunden liessen sich bei uns beraten, kehrten aber nicht mehr zurück. Also lancierte mein Sohn den Online-Shop discountlens.ch. Das war eine brillante Idee, aber er bezahlte viel Lehrgeld – auch weil er sich auf einen falschen Partner verlassen hatte. Um ihm aus der Klemme zu helfen, stieg ich wieder in die Firma ein und baute mit ihm das Online-Business auf. Das war ein unheimlich spannendes Projekt. Wir investierten zwei Jahre, um einen kundenfreundlichen und sehr effizienten Web-Shop aufzubauen. Heute, zehn Jahre später, können Sie bei uns kurz vor 15 Uhr online eine Bestellung aufgeben, am nächsten Tag haben Sie die Linsen im Briefkasten. Wir sind inzwischen klarer Marktführer in der Schweiz und verkaufen auch nach England, Irland, Spanien, Frankreich, Italien, Österreich, Deutschland und in die Benelux-Staaten. Allein heute haben wir über 1800 Linsenpaare auf die Reise geschickt.
Woher kommt diese Faszination für alles Neue? Es gibt Menschen, die sind 20 Jahre jünger als Sie und wollen nichts mit dem Computer zu tun haben.
Es gibt auch 45-Jährige, die sagen, sie seien zu alt, um die Stelle oder den Beruf zu wechseln. Wer neugierig und ausdauernd ist, bleibt immer jung. Internetbasierte Geschäftsmodelle sind unglaublich aufregend, man kann kreativ sein wie in der Kunst, muss aber gleichzeitig ein hohes Tempo anschlagen. Ich habe schon vor 25 Jahren Computer genutzt und selber Programme geschrieben. Heute ist die technologische Entwicklung zwar zu rasant für mein Computer-Know-how, ich kann unser IT-Team aber immer noch beratend unterstützen. Es ist doch ein Drama, wenn sich Menschen mit fünfzig auf dem Abstellgleis fühlen. Im Alter zwischen 50 und 80 ist das Potenzial am grössten, nie ist die Mischung aus Leidenschaft, Erfahrung und Weisheit besser. Es ist kein Zufall, dass viele grosse Staatsmänner erst als über Siebzigjährige den Höhepunkt ihres Wirkens erreichten.
Es gibt allerdings auch viele Unternehmer, die den richtigen Moment für den Abgang verpassen und so zu einer Hypothek werden für ihre Firma. Wie vermeiden Sie das?
Ich bitte Sie. Erstens bin ich keine alte Patronin, sondern jung und voller Ideen. Zweitens habe ich ein wunderbares Team und freue mich über jeden, der etwas besser kann oder weiss als ich. Und drittens kann ich jetzt nicht auf halbem Weg aufhören. Wir haben noch viel vor und möchten eines Tages an die Börse.
9. und 16. August 2014