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«Ich spende 50 Prozent meines Lohns»

Eigentlich wollte Jonas Vollmer Arzt werden, doch dann beendete er sein Medizinstudium vorzeitig, um seine Arbeitskraft in den Dienst der Bewegung «Effektiver Altruismus» zu stellen. Wenn er dafür sorge, dass möglichst viele Menschen 10 Prozent ihres Einkommens an die richtigen Organisationen spenden, könne er mehr bewegen als im Arztberuf, sagt der 24-Jährige.

Interview: Mathias Morgenthaler    Foto: zvg


Kontakt und weitere Informationen:
www.gbs-schweiz.org


Herr Vollmer, Sie haben Ihr Medizinstudium nach dem Bachelor vorzeitig beendet. Warum haben Sie sich gegen den Arztberuf entschieden?
JONAS VOLLMER: Ich hatte nach drei Jahren Studium drei Optionen: Weiterstudieren und Arzt werden, mich am Aufbau eines Medtech-Start-ups in San Francisco beteiligen oder eine Organisation gründen, welche die Bewegung des Effektiven Altruismus stärkt. Alle drei Optionen waren verlockend. Der weit verbreitete Ratschlag «Folge deiner Passion» brachte mich nicht weiter, also fragte ich mich: Wo ist mein Impact am grössten? Wo kann ich wirklich etwas bewegen?

Als Arzt hätten Sie Leben retten können.
Ja, das ist richtig. Laut einer englischen Untersuchung rettet ein Arzt durch seine Tätigkeit durchschnittlich 20 Menschenleben, respektive er verschafft seinen Patienten insgesamt 600 gesunde Lebensjahre. Den gleichen Effekt erreicht man mit einer Spende von 50’000 Franken an die richtige Organisation. Wenn ein Schweizer Arzt permanent10 Prozent seines Einkommens spendet, bewirkt er 20-mal mehr als ich mit einer Arzt-Karriere. Ich empfand diese Einsicht als recht deprimierend. Deswegen entschied ich mich, meine Arbeitskraft in den Dienst der Bewegung «Effektiver Altruismus» zu stellen.

Wie sind Sie mit dieser Bewegung in Kontakt gekommen?
Mir war schon in Schulzeiten wichtig, etwas zu einer besseren Welt beizutragen. Während des Studiums beteiligte ich mich an einem Projekt in der Entwicklungszusammenarbeit, das die medizinische Grundversorgung in Indien verbessern sollte. Ich erlebte dort sehr engagierte Menschen, die zum Teil erschreckend unwissenschaftlich arbeiteten. So wurden zum Beispiel homöopathische Mittel eingesetzt, für deren Wirksamkeit es keinen seriösen Nachweis gab. Im Zentrum stand bei diesem Hilfswerk oft nicht der Impact, sondern das gute Gefühl der Spender und der Mitarbeiter. Leider wird in Non-Profit-Organisationen sehr viel Geld und Arbeitskraft sehr ineffizient eingesetzt.

Die Internationale Zusammenarbeit hat sich doch stark professionalisiert in den letzten Jahren.
Die Diskussion konzentriert sich meistens darauf, wie hoch der Anteil der Administration an den Gesamtkosten ist. Dabei gibt es keinen statistischen Zusammenhang zwischen den Kosten für die Administration und dem Impact einer Organisation. Entscheidend ist, wie wirksam die begrenzten Ressourcen eingesetzt werden. Ein Beispiel: Wenn Sie beim Kauf eines Computers die Wahl hätten zwischen zwei gleichwertigen Modellen, von denen der eine 5000 Franken kostet und der andere 100 Franken, welchen würden Sie kaufen?

Den günstigeren – aber was hat das mit der internationalen Zusammenarbeit zu tun?
Dort lauten die Alternativen zum Beispiel: Mit HIV-Behandlungen im Umfang von 5000 Franken ein zusätzliches gesundes Lebensjahr ermöglichen oder mit 20 Malaria-Netzen zum Gesamtpreis von 100 Franken das gleiche Resultat erzielen. Auch hier scheint die Wahl klar, aber viele Organisationen entscheiden nicht nach rationalen Gesichtspunkten und überprüfen die Wirksamkeit ihrer Interventionen nicht. Das Ziel des Effektiven Altruismus ist, die Spenden dorthin zu leiten, wo sie maximale Wirkung erzielen. Die Bewegung entstand vor etwa sechs Jahren an der Universität Oxford, wir haben im Herbst 2013 einen Hub in Basel gegründet. Die Schweizer Community für Effektiven Altruismus ist weltweit die drittgrösste nach Oxford und San Francisco.

Und Ihre wichtigste Mission als Geschäftsleiter der GBS Schweiz ist es, die Schweizerinnen und Schweizer zu effektivem Spenden zu animieren?
Das Netzwerk des Effektiven Altruismus hat weit über 1000 Mitglieder, die sich vorgenommen haben, auf Lebzeiten mindestens 10 Prozent ihres Einkommens zu spenden. In der Schweiz ist die Rechnung einfach: Selbst wenn wir 10 Prozent des Einkommens weggeben, gehören wir weltweit noch zum einen Prozent der Bestverdienenden. Gemessen am Bruttoinlandprodukt sind wir das fünftreichste Land der Welt. Das gibt uns die Macht, enorm viel zu bewegen. Wenn Europa und die USA10 Prozent des Einkommens für effektive Projekte spenden würden, käme in einem Jahr genug Geld zusammen, um Malarianetze für alle Menschen zur Verfügung zu stellen, alle gegen HIV, Tuberkulose und Wurmerkrankungen zu behandeln, Bildung für alle zu ermöglichen, den gesamten Regenwald vor der Rodung zu schützen und das Budget der globalen medizinischen Forschung zu verdreifachen.

Welche Projekte haben Sie lanciert in den knapp zwei Jahren?
Das eine Projekt heisst «Raising for Effective Giving». Damit ermutigen wir professionelle Pokerspieler, 5 bis 10 Prozent ihrer Nettogewinne an effektive Hilfsorganisationen zu spenden. Pokerspieler sind eine ideale Zielgruppe. Sie agieren sehr rational und legen wenig Wert auf materielle Statussymbole. Im letzten Jahr hat Poker-Weltmeister Martin Jacobson dank dieser Initiative eine Viertelmillion gespendet. Das zweite wichtige Projekt ist «Sentience Politics». Wir arbeiten mittels städtischer Volksinitiativen darauf hin, dass es in öffentlichen Kantinen vermehrt pflanzliche Menüoptionen gibt.

Sie selber spenden auch und ernähren sich fleischlos?
Ich spende etwa die Hälfte des Lohns, den ich mir als Geschäftsleiter unserer Non-Profit-Organisation mit 8 Vollzeitstellen auszahle. Und ich habe mir das Fleischessen tatsächlich abgewöhnt und lebe heute weitestgehend vegan. Der globale Fleischkonsum ist eine der wichtigsten und meist übersehenen Ursachen des Klimawandels. In der Schweiz ist rund ein Viertel der Treibhausgase auf den Konsum von Tierprodukten zurückzuführen. Und weltweit sterben Menschen an Hunger, weil wir Grundnahrungsmittel an Tiere verfüttern. Wir produzieren Nahrung für 12 MilliardenMenschen, dennoch sind 795 Millionen Menschen oder jeder Neunte der 7 MilliardenMenschen nach wie vor permanent unterernährt.

Das hat Sie zum Veganer werden lassen?
Das Schlüsselerlebnis war ein Vortrag über die Fleischproduktion, den ich vor fünf Jahren besuchte. Ich entschied mich noch am gleichen Abend, Vegetarier zu werden. Wer weiss, wie Tiere gezüchtet und geschlachtet werden, kann doch nicht einfach weiteressen wie bisher. In der Schweiz werden jährlich 50 Millionen Tiere für 8 Millionen Menschen geschlachtet. Viele Europäer schreien auf, wenn Chinesen Hunde essen, führen aber Schweinefleisch auf jeder Menükarte, obwohl Schweine kognitiv Hunden überlegen sind und folglich sehr empfindungsfähige Lebewesen sind. Wir gehen nicht mit Verboten vor, aber wir wollen die Verfügbarkeit schmackhafter Alternativen erhöhen, damit jeder eine echte Wahl hat.

Das klingt alles extrem vernünftig und selbstlos für einen 24-Jährigen.
Gegen vernünftige Entscheidungen ist nichts einzuwenden, finde ich. Selbstlos bin ich nicht, es ist mir sogar wichtig, den Altruismus aus der Ecke der Askese und Selbstaufopferung herauszuholen. Altruismus muss lebbar sein. Ich verzichte auf nichts, was mir wichtig wäre. Ich gehe einer befriedigenden und intellektuell anregenden Arbeit nach, achte aber darauf, nicht mehr als 50 bis 60 Stunden pro Woche zu arbeiten und gehe gerne in die Ferien. Ich brauche wenig Geld, um glücklich zu sein. Mein Luxus besteht darin, mit interessanten Menschen etwas Sinnvolles zu tun und nach der Arbeit etwas Gutes zu kochen.

Wann haben Sie angefangen, sich um die Frage zu kümmern, wie die Welt zu verbessern wäre?
Mein Vater berichtete als Journalist für das «St. Galler Tagblatt» aus Krisenregionen. In meinem Umfeld haben sich viele politisch engagiert. Ich übernahm in jungen Jahren die Leitung der Schülerzeitung, gründete später das erste Schülerradio der Schweiz und half, ein Online-Jugendmagazin aufzubauen. Ausserdem war ich ein anstrengender Schüler, der viele unbequeme Fragen stellte und meine Lehrer in lange Diskussionen verwickelte. Mein Antrieb war immer, mich unvoreingenommen mit den essenziellen Fragen auseinanderzusetzen und ein Maximum aus meiner privilegierten Situation herauszuholen.


27. Juni 2015