Klaus Siefert, Talentcoach
«Unser Kerntalent ist untrennbar mit einer Verletzung verbunden»
Warum kennen viele Menschen ihr grösstes Talent nicht oder fühlen sich dort unzulänglich, wo sie Ausserordentliches leisten? «Talent ist eng mit Trauma verknüpft», sagt Klaus Siefert. Er unterstützt Menschen dabei, ihr Talent in einer schmerzlichen Erfahrung aus der Kindheit zu finden. Dadurch werde nicht nur die Leistung, sondern auch das Selbstbewusstsein gestärkt, erläutert der Talentcoach.
Interview: Mathias Morgenthaler Foto: zvg
Kontakt und weitere Informationen:
www.siefert-talente.de oder post@siefert-talente.de
Herr Siefert, Sie arbeiten als Talentcoach. Wie war das bei Ihrer Berufswahl: Sind Sie da Ihren Talenten gefolgt?
KLAUS SIEFERT: Am Anfang habe ich in erster Linie den Wunsch meiner Eltern erfüllt, ihr Sohn möge einen sicheren Beruf ergreifen. Aber es gab auch einen inneren Antrieb. Ich hatte in der Schulzeit sehr unter meiner Legasthenie gelitten. Deshalb wollte ich mir und allen anderen beweisen, dass ich die Ausbildung zum Bankkaufmann absolvieren kann. Das war damals eine prestigeträchtige Sache. Ich bekam dann allerdings die schlimmste denkbare Position. Als Leiter der Zentralkasse sass ich in einem Glaskasten und zählte das Geld – ein Verwaltungsjob ohne persönliche Komponente, der mich sehr erschöpfte.
Nach einem Betriebswirtschaftsstudium und ersten Erfahrungen in der Unternehmensberatung übernahmen Sie als Interims-Geschäftsführer die Verantwortung für eine Firma. Was haben Sie da gelernt?
Wie mächtig Talente sind, wenn sie sich am richtigen Ort entfalten können. Es gelang mir innert kürzester Zeit, den Umsatz der Firma zu verdoppeln und sie in die Erfolgsspur zurückzuführen. Der Schlüssel zum Erfolg war, dass ich den Mitarbeitern intuitiv jene Rollen zuwies, in denen sie wirklich etwas bewegen konnten. Ich hielt das damals für einen glücklichen Zufall. Später, als ich erstmals mit Coaching in Berührung kam, merkte ich: das, was ich immer schon in meinem Freundeskreis getan hatte – andern zu zeigen, was sie gut können – gab es ja als Beruf. So begann ich, die Frage zu erforschen, wie Höchstleistungen aus dem Talent generiert werden.
Wann erbringen Menschen Höchstleistungen?
Viele erfolgreiche Menschen haben kein sehr klares Bild für ihr eigentliches Talent, denn oft verstellt ein Gefühl von Unzulänglichkeit den Blick darauf. Lange, nachdem ich damit begonnen hatte, Erfolgsmuster zu analysieren, entdeckte ich, dass jeder Mensch ein Kerntalent mitbringt. Es liegt dort verborgen, wo wir in jungen Jahren am stärksten geprägt worden sind. Nehmen wir das Beispiel eines Mannes, der als Kind sehr unter seinem streitbaren und rechthaberischen Vater gelitten hat. Er setzte in seiner Kindheit alles daran, Brücken zu bauen zu seinem Vater, sich mit ihm zu versöhnen, die Konflikte zu lösen. So wird er aus Betroffenheit zu einem exzellenten Konfliktlöser, ist später als Anwalt oder Mediator genau auf diesem Gebiet tätig. Aber wissen Sie, was das Drama ist?
Dass er diese Arbeit nicht mag?
Dass er sich als Konfliktvermeider fühlt, weil er aufgrund der schmerzhaften Erfahrung mit seinem Vater glaubt, er könne keine Konflikte lösen. Er ist zwar ein virtuoser Konfliktlöser für andere geworden, ohne dass ihm das bewusst wäre, weicht aber seinen eigenen Konflikten aus, weil er sich unzulänglich fühlt in dieser Rolle. Das ist der Grund, warum sich viele Menschen schwer tun, ihre Berufung zu erkennen und zu leben. Ihr Kerntalent ist untrennbar mit einer Kernverletzung verbunden. Durch unsere persönliche Lebensgeschichte wird ein hochkarätiges Talent geschliffen. Wir können es darin aber nur zur Meisterschaft bringen, wenn wir auch die Verletzung ernst nehmen, die damit verbunden ist, und mit der Zeit das Gefühl der Unzulänglichkeit ablegen.
Was haben Sie als Ihr Kerntalent identifiziert?
Ich habe einen sehr klaren Blick für das Talent im Menschen. Das wurde mir erst bewusst durch die Auseinandersetzung mit meiner Kernverletzung. Ich lebte lange mit dem Gefühl, nicht sehr leistungsfähig zu sein, weil ich aufgrund der Legasthenie weniger gut schreiben und lesen konnte als die anderen. Wenn ich später besondere Leistungen erbrachte, erlebte ich sie nicht als meine Erfolge. Das beobachte ich bei vielen sehr erfolgreichen Berufsleuten: Sie leisten Ausserordentliches, aber in ihrem Inneren dominiert der Zweifel, ob sie wirklich etwas besonders gut können. Entscheidend ist, ob es jemandem gelingt, die besondere Qualität in sich zu identifizieren und anzuerkennen, die zu den überdurchschnittlichen Resultaten führt. Wer sein Kerntalent gezielt einsetzt, fasst Vertrauen in seine eigene Stärke. Er ist nicht nur erfolgreicher, er wird auch unabhängiger von äusserer Anerkennung wie Lohn, Status oder Bewunderung.
Ihre These lautet: Jeder Mensch ist mit einem prägenden Kindheitserlebnis und einem zentralen Talent unterwegs?
Das war meine These und ist inzwischen, nach Hunderten von Talentcoachings, meine feste Überzeugung. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Ein Geschäftsführer eines Handelsunternehmens kam zu mir ins Coaching, weil er sich überlastet und erschöpft fühlte. Im Gespräch kristallisierte sich ein zentrales Thema seiner Kindheit heraus: die Trauer darüber, dass immer wieder Bekannte oder Freunde verunglückt waren. Aus dem kindlichen Wunsch heraus, solche schlimmen Ereignisse abwenden zu können, entwickelte er das Kerntalent, zukünftige Entwicklungen sehr früh zu antizipieren. Erst im Coaching wurde ihm diese ausserordentliche Fähigkeit bewusst, die er aufgrund seines Traumas perfektioniert hatte. Er lernte, darauf zu vertrauen und sich darauf zu fokussieren. Besser als jeder Trendforscher wusste er, welche Produkte in Zukunft gefragt sein werden, welche Verpackung den Absatz beflügeln wird, welche Bewerber einzustellen sind. Durch die Konzentration auf sein Kerntalent lösten sich die Erschöpfungs- und Überlastungsprobleme in Luft auf.
Man muss also nicht den Angestellten-Job kündigen und sich selbständig machen, um seine eigenen Talente zur Entfaltung bringen zu können?
Nein, meine Erfahrung besagt, dass vier von fünf Kunden intuitiv den richtigen Weg eingeschlagen haben und es mehr um eine Feinjustierung als um eine komplette Neuausrichtung geht. Ich denke an den Controller, der von seinem Arbeitgeber mehrmals kritisiert wurde, er sei zu langsam, und schliesslich den Job verlor. Erst durch die Auseinandersetzung mit seinem Kerntalent zeigte sich, dass seine grösste Stärke ist, den Dingen auf den Grund zu gehen, Prozesse zu verbessern. Entsprechend war es wichtig, dass er sich nicht länger in einer ausführenden Funktion unter Druck setzen lässt, sondern künftig konzeptionell arbeitet. Allein durch diese Schärfung des eigenen Profils erhielt er nach Dutzenden von Absagen in kurzer Zeit zwei Zusagen.
Was empfehlen Sie jungen Menschen, die vor der Berufswahl stehen?
Viele verlieren schon in jungen Jahren die Verbindung zu ihrem Kerntalent. Wenn dann die Anforderungen in der Schule oder Ausbildung nicht zu ihren natürlichen Talenten passen, fühlen sie sich orientierungslos und glauben, sich in allgemeine Jobprofile einfügen zu müssen. Es lohnt sich, möglichst früh den eigenen inneren Standpunkt zu finden. Er leitet sich von einer zentralen Lebenserfahrung und den in uns angelegten Talenten ab, die sich durch die Verletzung ausprägen. Sind wir uns dessen nicht bewusst, werden wir gerade in dem Bereich, in dem wir Ausserordentliches leisten könnten, von einer Illusion der Unzulänglichkeit gebremst. Fassen wir Vertrauen in unser Talent, erleben wir Verbundenheit und Wirksamkeit.
19. Januar 2016