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«Wir brauchen Werkzeuge gegen die digitale Selbstausbeutung»

Im Schlafzimmer, im Büro, im Zug, am Mittagstisch: Überall checken wir heute Mails, laden Fotos hoch, verschicken Nachrichten und verfolgen die digitalen Spuren anderer auf den Displays unserer Smartphones. Das Berliner Startup Offtime will hier mit einer App Gegensteuer geben. «Wer regelmässig ganz abschaltet, ist deutlich leistungsfähiger», sagt Offtime-Mitgründer Michael Dettbarn.

Interview: Mathias Morgenthaler    Foto: Pablo Ruiz/zvg


Kontakt und weitere Informationen:
www.offtime.co


Mehr Offtime durch Selbstkontrolle und Barrieren

Die App Offtime, welche die drei Berliner Jungunternehmer Marc Scherfenberg, Alexander Steinhart und Michael Dettbarn 2014 lanciert haben, zeichnet die Smartphonenutzung auf und hält so jedem User den Spiegel vor, wie lange er sich mit welchen Programmen beschäftigt und wie oft er an einem Tag zum Smartphone greift.
Die Nutzer können mithilfe der App Auszeiten definieren, während derer das gesamte Smartphone oder einzelne Applikationen gesperrt sind. Die App ist derzeit nur für Android-Geräte erhältlich, eine Aufschaltung im Apple-Store ist in den nächsten Wochen geplant. (mmw)


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Herr Dettbarn, wie kommt es, dass Sie als Kommunikationswissenschafter und Social-Media-Experte eine App mitentwickelt haben, die den Menschen beim Abschalten hilft?
MICHAEL DETTBARN: Ich kenne all die Verlockungen der digitalen und vernetzten Welt. Es ist phantastisch, welche Möglichkeiten wir dank Smartphones und Computern haben, wie leicht wir Zugang bekommen zu Informationen und Personen. Aber wir sollten nicht übersehen, welche Gefahren damit einhergehen. Die permanente Reizüberflutung lenkt uns ab, erschwert konzentriertes Arbeiten, kann uns lähmen oder krank machen.

Haben Sie an sich selber Suchtverhalten beobachtet im Umgang mit dem Smartphone?
Jeder, der in sich geht und seinen Umgang mit dem Smartphone reflektiert, wird feststellen, dass die Technologie ihm nicht nur nützt, sondern dass sie ihm auch etwas wegnimmt. Ungeteilte Aufmerksamkeit ist ein rares Gut geworden. Ich habe mich auch dabei ertappt, unsinnig oft meine Mails zu checken und zu oft auf mein Display zu schauen. Das hat auch einen Einfluss auf Beziehungen. Vor einigen Jahren teilte ich das Bett nur mit meiner Freundin, allenfalls noch mit einem Buch. Heute geschieht es leicht, dass wir zu viert im Bett liegen: Zwei Menschen und zwei Smartphones. Auch wenn ich mit jemandem essen gehe, braucht es Disziplin, das Smartphone wegzulegen und mich ganz auf das Gegenüber zu konzentrieren.


Manche gehen so weit, die Smartphones als Droge zu bezeichnen. Einverstanden?
Unser Umgang damit hat suchthafte Züge. Wenn wir chatten, Mails checken oder auf Facebook etwas teilen, werden im Hirn die gleichen Areale stimuliert wie beim Essen oder beim Sex. Das Belohnungszentrum sorgt dafür, dass wir in immer kürzeren Abständen neue digitale Impulse brauchen, eine neue Portion Glück erhaschen wollen. Eigentlich sollte uns die Technologie dabei unterstützen, den Umgang mit dem gigantischen Angebot in den Griff zu bekommen. Aber die grossen Konzerne im Silicon Valley haben kein Interesse daran, dass wir uns mässigen. Sie stellen uns ein aufregenderes und einfacheres Leben in Aussicht, verführen uns dazu, möglichst oft und lange online zu sein. Wenn wir nicht aufpassen, mutieren wir rasch von souveränen Nutzern zu bedürftigen Konsumenten. Im Vordergrund steht nicht mehr das Interesse des Einzelnen, sondern das Bestreben der Technologie-Giganten wie Apple oder Google, Daten zu generieren und zu verwerten.

Ist es nicht paradox, dass Sie das ausgerechnet mit einer App ändern wollen, für deren Verbreitung Sie auf das Mitwirken der Konzerne angewiesen sind, die Sie kritisieren?
Wir versuchen, den Nutzern mit einem einfachen Werkzeug die Kontrolle zurückzugeben über ihren Umgang mit Technologie. 84 Prozent von uns sind permanent und meist freiwillig erreichbar, sagt die Initiative für Gesundheit und Arbeit. Das hat negative Auswirkungen auf die Gesundheit. In den meisten Fällen ist es nicht der Arbeitgeber, der das verlangt, sondern das Suchtverhalten der Smartphone-Nutzer führt dazu, dass rund um die Uhr private und berufliche Informationen empfangen werden. Ein Knopfdruck genügt, und schon prasseln unzählige Nachrichten auf uns nieder. Es reicht deshalb nicht, eine Work-Life-Balance einzuführen, was ohnehin ein seltsames Konzept ist. Wichtiger ist es, eine gute Balance zu finden zwischen Online- und Offline-Zeiten. Unsere App ermöglicht es den Nutzern, bewusst eigene Zeit-Räume zu schaffen und die Kontrolle über die Vernetzung zurückzugewinnen.

Wie soll das gelingen, dass sich Süchtige selber auf Entzug setzen?
In einem ersten Schritt geht es darum, ein Problembewusstsein zu entwickeln und die Gewohnheiten zu durchbrechen. Dann kann man sich ein neues Verhalten antrainieren. Unsere App spiegelt dem Benutzer sein Konsumverhalten. Viele Anwender erschrecken erst einmal, wenn sie sehen, wie viel Zeit für die Smartphone-Nutzung draufgeht und wie wenig Raum für ungestörtes Nachdenken und Arbeiten bleibt. Dann bietet die App Kommunikationsfilter an, in dem sie einzelne Apps oder die ganze Kommunikation vorübergehend blockiert. Weil viele Nutzer Angst haben, in der Offline-Zeit etwas zu verpassen oder jemanden vor den Kopf zu stossen, können Anrufer automatisch benachrichtigt werden, wann der Adressat wieder erreichbar ist. Und am Ende des Offline-Zeitfensters erhält der Nutzer eine Übersicht, was in seiner Abwesenheit passiert ist.

Das klingt ziemlich banal.
Wir haben das Rad nicht neu erfunden. Wir stellen einfach ein Werkzeug zur Verfügung, das uns vor Selbstausbeutung schützt. Ich erlebe das am eigenen Leib. Wie oft hatte ich mir vorgenommen, keine Mails zu checken, wenn ich Zeit mit meinem Sohn verbringe. Oft blieb es beim Vorsatz, und bei der ersten Gelegenheit schaute ich trotzdem rein. Ist man erst einmal online, gibt es immer scheinbar dringliche Dinge. Heute stelle ich mein Smartphone auf Offline, wenn ich mit meinem Sohn unterwegs bin – und zwar so, dass der Zugriff auf Mails und andere Applikationen ganz gesperrt ist. Diese zusätzliche Barriere ist sehr wertvoll für unsere gemeinsame Zeit. Viele Eltern sind sie nicht bewusst, was sie ihren Kindern vorleben, wenn sie in jeder freien Sekunde auf ihr Gerät starren.

Ihre Gratis-App wurde seit der Lancierung im Oktober 2014 bereits 500‘000-mal heruntergeladen. Wie wollen Sie damit Geld verdienen?
Zunächst einmal sind wir positiv überrascht, wie aktiv die Nutzer sind und wie viel Entwicklungs- und Verbesserungsvorschläge wir erhalten. Das Thema brennt vielen unter den Nägeln. Einige der anspruchsvolleren Anwendungen sind kostenpflichtig. In den nächsten Wochen sollte die App, die bisher nur für Android-Geräte verfügbar war, auch für Apple-Nutzer zugänglich sein, was uns auch finanziell weiterbringen würde. Zudem konnten wir schon kurz nach der Lancierung eine Partnerschaft mit der Swisscom eingehen.

Wie haben Ihr Berliner Startup und die Swisscom zusammengefunden?
Die Swisscom suchte den Kontakt zu uns, weil sie ihren Kunden in diesem Bereich einen Service bieten will. Auch das klingt auf den ersten Blick paradox: Die Telekom-Anbieter, die uns mit grenzenloser Vernetzung und Unterhaltung köderten, wollen uns bei der Entwöhnung helfen? Auf den zweiten Blick macht das durchaus Sinn. Ähnlich wie beim Essen, wo auf die Junk-Food-Welle der Trend zur gesunden Ernährung folgte, stehen wir bei der Information vor der Herausforderung, bewusster und gezielter unsere Häppchen zu konsumieren. Telekom-Anbieter, die ihre Kunden dabei unterstützen, können sich zweifellos profilieren. Künftig wollen wir noch vermehrt mit Unternehmen zusammenarbeiten, die unser Angebot ihren Mitarbeitern zur Verfügung stellen. Erste Projekte mit Swisscom und Axel Springer sind in Planung.

Sie engagieren sich auch in Forschung und Diskussionsplattformen. Hilft das dem Startup, schneller zu wachsen?
Nicht direkt, aber nebst dem kommerziellen Aspekt gibt es auch das gesellschaftliche Anliegen. Ich glaube daran, dass uns die neuen Technologien dabei helfen können, konzentrierter, effizienter und glücklicher zu sein. Das passiert aber nicht von selber, sondern nur, wenn wir intelligenter werden bei der Nutzung der Angebote. Das gelingt dann am besten, wenn nicht jeder für sich kämpft, sondern ein Umdenken initiiert wird. Heute gilt es als vorbildlich, sofort auf Mails und Anrufe zu reagieren. Je mehr wir darüber nachdenken, welchen Preis wir dafür zahlen, desto grösser sind die Chancen, dass die Akzeptanz für längere Offline-Zeiten wächst. Längst ist wissenschaftlich belegt, dass jene gesünder und leistungsfähiger sind, die sich regelmässig aus dem digitalen Datenstrom ausklinken.


25. Juli 2015