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«Entscheidend war, klügere Köpfe ins Boot zu holen»

Nicola Forster hätte nach seinem Jus-Studium in einer Anwaltskanzlei 8500 Franken pro Monat verdienen können. Stattdessen nahm er ein Darlehen auf und gründete das Forum Aussenpolitik (Foraus). Im Interview schildert der 31-Jährige sein «Erweckungserlebnis» und erzählt, wie es ihm gelang, den Think-Tank rasch wachsen zu lassen und von ihm unabhängig zu machen. Auch als Unternehmer mit der Firma Crstl beschreitet Forster gerne Neuland und bringt etwa die Diplomatie mit der Kunst- und Start-up- Welt zusammen.

Interview: Mathias Morgenthaler    Foto: zvg


Kontakt und weitere Informationen:
nicola.forster@foraus.ch oder www.foraus.ch


Herr Forster, Sie haben Rechtswissenschaften studiert und hätten nach Studienabschluss in einer renommierten Kanzlei einsteigen können. Warum haben Sie stattdessen den Think-TankForum Aussenpolitik (Foraus) gegründet?
NICOLA FORSTER: Aus ökonomischer Sicht war das unsinnig, aber ich befand mich damals in einer Art Ausnahmezustand.

Wegen des Studienabschlusses?
Nein, wegen eines Abstimmungskampfes. Ich durfte 2008 die nationale Kampagnenleitung der Jungparteien für die Abstimmung über die Osterweiterung der Personenfreizügigkeit übernehmen. Am Anfang hatten wir nichts ausser dem Willen, uns für die weitere Öffnung der Schweiz einzusetzen – kein Team, keine Ressourcen, keine Erfahrung, keinen Plan. Dann konnten wir innerhalb von vier Monaten eine enorme Energie freisetzen, weil es uns gelang, sehr viel junge Menschen ins Boot zu holen und ihnen klar zu machen, dass da gerade ihre Zukunft verhandelt wurde. Für mich war das eine Art Erweckungserlebnis. Ich war euphorisiert von unserer Kampagne und vom Gefühl, mit vielen anderen etwas zu bewegen.

Und da konnten Sie sich nicht mehr vorstellen, künftig in einer Anwaltskanzlei fremde Vorgaben umzusetzen?
Zunächst hatte ich ein anderes Problem: nur wenige Wochen nach der Abstimmung musste ich zur Uni-Abschlussprüfung antreten – und fiel hochkant durch. Im zweiten Anlauf habe ich zum Glück bestanden. Ich hätte dann wirklich bei dieser Kanzlei anfangen sollen, der Vertrag war unterzeichnet, mein monatlicher Praktikumslohn auf 8500 Franken festgelegt. Das war alles sehr attraktiv und vernünftig, aber meine Energie war ganz woanders. Ich wollte etwas von dem weiterführen, was in den Monaten zuvor auf wundersame Weise entstanden war. So entwarf ich ein Konzept für einen Think Tank, verschickte das Dokument an möglichst viele Leute und erhielt eines Tages einen Anruf von Pablo Padrutt, eines Primarschulfreundes. Er sagte nur: «Deine Idee gefällt mir, lass uns das zusammen umsetzen.» So gründeten wir den Verein Foraus, ich sagte der Anwaltskanzlei ab und nahm von meinen Eltern ein Darlehen auf, ummich voll dem Aufbau des Think-Tanks widmen zu können.

Geld war für Sie kein Antrieb?
Ich lebte damals in einer Wohngemeinschaft, meine Fixkosten lagen nahe bei Null. Ich hätte schon Lust gehabt, Karriere zu machen, aber die Motivation, mit Freunden etwas Eigenes aufzubauen, war deutlich grösser. Es war der perfekte Moment, Unternehmer zu werden. Ich hatte meinen Abschluss in der Tasche und wusste, dass ich im Notfall immer als Jurist würde arbeiten können. Zudem war ich elektrisiert vom Gedanken der Co-Kreation. In vielen Unternehmen kommt es darauf an, so zu tun, als sei man der hellste Kopf. Bei uns war es entscheidend, klügere Köpfe ins Boot zu holen. So erfanden wir das Konzept eines Crowdsourcing-Think-Tanks, der auf die Weisheit und die Ideen von hunderten klugen Köpfen setzt. Du musst nicht selber Experte sein, sondern den Startimpuls geben, dich mit voller Kraft ins Zeug legen und fantastische Mitstreiter finden.

Wie hat sich Foraus seit der Gründung 2009 entwickelt?
Am Anfang hatte ich ehrlich gesagt keine grosse Ahnung von Aussenpolitik. Da wir aber unbedingt die ganze Bandbreite der Aussenpolitik abdecken wollten, haben wir einfach in allen Themenbereichen des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) jeweils eine Arbeitsgruppe gegründet. Die Kernidee war, ein Forum zu schaffen für unsere Generation, welche die Globalisierung positiv gestalten und die Schweiz mit originellen Ideen und ihrem aussenpolitischen Wissen weiterbringen will. Unser Zielpublikum waren einerseits diese jungen Leute, die in der Politik bisher keine Stimme hatten. Und andererseits die Miliz-Politikerinnen und -Politiker, die oft stark auf Wahlen und Stimmungen ausgerichtet sind und teilweise vor lauter Problembewirtschaftung die Lösungen aus den Augen verlieren. Wir wollten mit unseren Ideen und Analysen in wichtigen Zukunfts-Themen politischen Einfluss ausüben, auch wenn wir selber keine Politiker sind.

Hat das nicht auch etwas Vermessenes, wenn Akademiker erfahrenen Politikern sagen wollen, was Sache ist?
Doch, natürlich, das war sehr ambitioniert und vielleicht ein wenig anmassend, aber so ticken Unternehmer nun einmal: Wenn es etwas, das sie wichtig finden, noch nicht gibt, dann gründen sie es halt. Zentral war, dass wir schon mit den ersten Diskussionspapieren zeigen konnten, dass wir ein ernstzunehmender Akteur sind und wissenschaftlich fundierte Politikempfehlungen anbieten können. Als Politiker hingegen hätten wir in unserem Alter wenig bewegen können, denn bevor man da in nationalen oder internationalen Fragen Einfluss nehmen kann, muss man sich jahrelang mit Fussgängerstreifen, Kreiselgestaltung und Abfallreglementen herumschlagen. Zudem wollten wir uns nicht mit Meinungen und Parolen um einen Nationalratssitz bewerben, sondern unabhängig von Parteipolitik jenen Ideen, welche die Schweiz weiterbringen, Sichtbarkeit und Kraft verleihen.

Was können Sie auf diese Art bewegen?
Die Wirkungsmessung ist schwierig in unserem Feld. Ich halte es aber für ein gutes Zeichen, dass unsere Analysen heute bei sämtlichen politischen Parteien auf Anklang stossen und wir beispielsweise auch von Bundesräten eingeladen werden, um unsere Ideen zu präsentieren. Das Schönste ist, wenn wir eine Idee einbringen, die breit debattiert und dann zu einer Lösung ausgearbeitet wird von den politischen Akteuren und der Verwaltung. So haben wir Ende April vorgeschlagen, den Verfassungstext der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) durch einen Konkordanzartikel zu ersetzen. So könnte verhindert werden, dass sich ein Patt bildet zwischen den Anhängern der MEI und den Anhängern der Volksinitiative «Raus aus der Sackgasse». Durch diesen Kompromissvorschlag könnte die Zuwanderung gesteuert werden, ohne dass die bilateralen Verträge mit der EU samt Personenfreizügigkeit geopfert werden müsste.

Foraus ist zuletzt stark gewachsen und zu einem internationalen Projekt geworden.
Ja, wir beschäftigen nun 15 Festangestellte, unser Budget liegt bei über einer Million Franken, wir haben Büros in Zürich und Genf sowie einen Ableger in Berlin. Wir sind dank mehr als 1000 ehrenamtlichen Mitstreitern nicht nur in allen Universitätsstädten der Schweiz, sondern auch in Liechtenstein, Brüssel und bald Paris, London und New York aktiv. Zudem publizieren unsere Autoren ca. 10 Studien pro Jahr. Dieses steile Wachstum war nur möglich, weil ich als Gründer durch gute Manager abgelöst werden konnte. Nach mir hat Max Stern die Geschäftsführung übernommen – er hat wie ich zunächst gratis gearbeitet und dann wie ich auch längere Zeit für 3000 Franken pro Monat. Seit 1,5 Jahren liegt die Geschäftsführung in den Händen von Emilia Pasquier. Sie bringt Foraus auf die nächste Ebene und macht das viel besser, als ich es je gekonnt hätte.

Das klingt so vernünftig und selbstlos. Haben Sie keine Mühe mit Loslassen?
Mir fällt es eher schwer, zu lange am gleichen Ort zu bleiben. Ich baue etwas auf und tue alles dafür, dass die Organisation möglichst schnell auf ein gutes Level kommt und unabhängig wird von mir. Bei Foraus war es allerdings schon ein schmerzhafter Loslöseprozess. Ich beschloss, mit dem Mercator Kolleg ein Jahr ins Ausland zu gehen, um von internationalen Think-Tanks zu lernen. Wenn du dann in der Äthiopischen Hauptstadt Addis Ababa sitzt und im Institute for Peace and Security Studies arbeitest, kannst du gar nicht auf die Idee kommen, in der Schweiz gehe es nicht ohne dich. Als ich zurückkam, sah ich, dass es sogar besser gelaufen war ohne mich. Das halte ich für die höchste Befriedigung im Unternehmer-Leben: zu merken, dass die Organisation, die man mit aufgebaut hat, nicht mehr vom Gründer abhängig ist.

Sie sind Ende Juni von Ashoka, einer weltweit tätigen Organisation zur Förderung von sozialem Unternehmertum, ausgezeichnet worden. Wie sind Sie zum Unternehmer geworden?
Nach meinem Studium war mein geregeltes Leben zu Ende: Ich setzte alles auf eine Karte und gründete mit ein paar Mitstreitern den Think-Tank Foraus, um die Schweizer Aussenpolitik mit frischen Ideen zu beleben. Das Risiko hat sich voll gelohnt! Meine Schwierigkeiten mit fixen Strukturen hatten sich aber schon in der Schulzeit abgezeichnet. Ich war schon als Kind nicht gut darin, brav das zu lernen, was uns vorgegeben wurde. Wenn ich keine Leidenschaft für ein Thema entwickeln konnte, kam ich nicht auf Touren – auch nicht durch Notendruck. So flog ich vom Gymnasium, weil ich in Latein die Note 2,5 im Zeugnis stehen hatte. Später schaffte ich die Matura dann glücklicherweise doch noch, nachdem ich mich auf moderne Sprachen fokussiert hatte.

Ihr Vater ist Schulpsychologe, ihre Mutter Lehrerin. Wie haben Ihre Eltern auf den schulischen Misserfolg reagiert?

Sie haben mich glücklicherweise nicht unter Druck gesetzt. Ich ging in die Sekundarschule und hätte genauso gut eine Lehre machen können. Neben der Schule waren aber schon immer auch andere Dinge wie Musik oder Politik wichtig in meiner Familie: Als kleines Kind sass ich zuhause jeweils unter dem Flügel und hörte zu, wenn meine Urgrossmutter musizierte. Sie war eine jüdische Konzertpianistin aus Ungarn, die im Ersten Weltkrieg einen Geiger und Dirigenten aus der Ukraine auf Tournee in der Schweiz kennengelernt hatte – meinen Urgrossvater. Als Migranten wurden sie gut aufgenommen und konnten der Schweiz danach viel zurückgeben; mein Urgrossvater gründete beispielsweise das Kammerorchester Zürich (KOZ). Diese Migrationserfahrung in der eigenen Familie, verbunden mit ausgedehnten Reisen, hat meinen Blick auf unser Land sicher geschärft und mein politisches Interesse geweckt.

Warum haben Sie nach der Matura ein Jus-Studium in Angriff genommen?
Da ich leider keine Ahnung hatte, was ich dereinst tun wollte, dachte ich, ein Jus-Studium sei eine gute Möglichkeit, etwas Zeit zu gewinnen bis zur grossen Entscheidung über meine Zukunft. Ich nutzte mein Jus-Studium für Studienjahre in Montpellier und Lausanne und lernte dabei gut Französisch. Zurück in der Schweiz entdeckte ich, dass Staats- und Verwaltungsrecht durchaus spannende Materie sein kann, da darin der Schlüssel zu den Spielregeln unserer Gesellschaft verborgen liegt. Auch das internationale Recht hatte es mir angetan, da es uns vor der Machtpolitik der grossen Länder schützt und unserer Wirtschaft Rechtssicherheit gibt. Mit dieser Ausgangslage kann die Schweiz die Chancen der Globalisierung selbstbewusst packen und international eine aktive Rolle spielen, wofür wir uns mit Foraus heute stark einsetzen.

Was heisst das konkret?
Die Schweiz steht aktuell vor enormen Herausforderungen. Welche Rolle wollen wir spielen in Europa? Wie reagieren wir auf die starke Migration oder den Klimawandel? Auf viele dieser Fragen gibt es keine nationalen, sondern nur grenzüberschreitende Antworten. Also kommt es darauf an, clevere Formen der Zusammenarbeit mit internationalen Partnern zu finden. Die Schweiz ist in einer Position der Stärke, aber ich vermisse manchmal die Lust zu gestalten, die Diskussion darüber, wo wir hinwollen. Warum sind wir so defensiv, fast in einem Rückzugsgefecht? Es gibt keinen Grund, so viel Angst zu haben. Kein anderes Land ist so gut aufgestellt wie wir; wir sollten mit Zuversicht in die Zukunft schauen und sie gemeinsam gestalten.

Wie wertvoll ist die Auszeichnung von Ashoka im Hinblick auf den weiteren Ausbau des Think-Tanks Foraus?
Es ist zunächst eine grosse Ehre, in den Kreis der rund 3200 Ashoka-Fellows in 81 Ländern aufgenommen zu werden. Dann erlaubt mir die finanzielle Unterstützung, mich als Sozialunternehmer verstärkt der Internationalisierung und Skalierung guter Ideen zu widmen. Und schliesslich erhalten wir Zugang zu einem fantastischen weltweiten Netzwerk: Wenn wir Foraus in London, Paris oder New York aufbauen wollen, geht das mit Ashoka im Rücken wesentlich einfacher.

Daneben haben Sie sich auch noch als Innovationsberater mit der Firma Crstl selbständig gemacht. Welche Projekte verfolgen Sie da?
Es ist absurd, dass unter dem Begriff der Innovation in unserem Land immer bloss technologischer Fortschritt verstanden wird und die gesellschaftliche Dimension gleichzeitig ein Mauerblümchendasein fristet. Die Gründung eines Schweizer Labors für soziale und politische Innovation ist dringend nötig! Mit Crstl bringen wir Regierungen und grossen Organisationen Methoden aus der Startup-Welt näher und unterstützen sie dabei, ihre Arbeitsweise agiler und dynamischer zu gestalten.

Was heisst das zum Beispiel?
Beispielsweise bringen wir für das deutsche Auswärtige Amt in sogenannten «Open Situation Rooms» Diplomaten zusammen mit kreativen Köpfen aus Kunst, Kultur oder der Startup-Branche, um gemeinsam über Lösungen für die Migrations- oder Syrienkrise nachzudenken. Dabei entstehen häufig Ideen, die in einer reinen Expertenrunde der Verwaltung nie entstanden wären. Auch das von mir mitgegründete Global Diplomacy Lab versucht, eine breiter abgestützte Diplomatie zu entwerfen. Daneben können aber auch Pionierprojekte in der Privatwirtschaft enorm spannend sein: Aktuell denken wir gemeinsam mit dem Förderfonds Engagement Migros über die Zukunft des Essens nach und holen für den Kickstart Accelerator vielversprechende Startups aus der ganzen Welt in die Schweiz. Langweilig wird es mir gerade nicht!

Sie sind bekannt dafür, dass Sie viele neue Projekte anreissen. War Ihre Neugier immer grösser als die Angst vor dem Scheitern?
Meine Neugier war immer immens, und ich empfinde es als Privileg, ihr folgen zu können. Es kommt nicht darauf an, keine Fehler zu machen, sondern darauf, trotz permanentem Scheitern im Kleinen den Erfolg im Grossen hartnäckig anzupeilen. Da zahlt es sich aus, wenn man bereit ist, viel Energie und Leidenschaft zu investieren. Es braucht viel, bis ich ein Ziel aufgebe, wenn ich es mir einmal in den Kopf gesetzt habe. Und wenn dann wie bei Foraus oder Operation Libero viele weitere motivierte Leute bei der Gründung und beim Aufbau eines neuen Start-ups gemeinsam anpacken, kommt all die investierte Energie doppelt und dreifach zurück.


9. und 16. Juli 2016