Peter Kienzle, vom Art Director zum Pflegefachmann
Der Student, der von vielen «Herr Doktor» genannt wird
Der gelernte Grafikdesigner Peter Kienzle hat einen radikalen Karrierewechsel gewagt: Nachdem ihm mit 49 Jahren die Stelle als Art Director gekündigt worden war, nahm er ein Studium zum Pflegefachmann in Angriff. «Die Wertschätzung, die ich im neuen Beruf spüre, hält mich selber jung», sagt der heute 52-Jährige.
Interview: Mathias Morgenthaler Fotos: Urs Jaudas
Manchmal muss Peter Kienzle selber lachen, wenn er von seinem Werdegang erzählt. Bis zu seinem 49. Lebensjahr war er als Senior Art Director tätig, was gut klang, in Realität aber oft wenig glamourös war. Und heute, mit 52 Jahren, ist er in der Ausbildung zum Pflegefachmann HF, also ein nicht mehr ganz junger Student. Aber die betagten Menschen, die er betreut, sagen ehrfürchtig «Herr Doktor» zu ihm.
Was für andere Grund zur Sorge gewesen wäre, erlebte Peter Kienzle als Befreiungsschlag: Er sei unterfordert gewesen in seinem Job bei einer grossen Immobilienfirma, gleichzeitig ermüdet von der schwierigen Beziehung zu seinem Chef. Er habe im Grunde vor allem des guten Gehalts wegen ausgeharrt, erzählt er.
Als Kienzle dann die Kündigung erhalten habe mit fast fünfzig, seien für ihn zwei Fragen im Vordergrund gestanden: Wo werde ich wirklich gebraucht? Und wo finde ich Erfüllung oder zumindest Zufriedenheit?
Bald kamen zum Umsteigen nur noch zwei Berufe infrage: Lehrer oder Pflegefachmann. Und weil man einen neuen Beruf am besten kennen lernt, indem man ihn ganz praktisch ausübt, schnupperte Kienzle einige Tage bei der Spitex und ganze sechs Wochen bei einer Pflegewohngruppe der Stadt Zürich. «Diese Einsätze bereiteten mir grosse Freude», erinnert sich der 52-Jährige, «die Arbeit hat mich an meine Zivildienstzeit in Deutschland erinnert, wo ich Senioren und körperlich beeinträchtigte Erwachsene betreut hatte».
Nach dem Zivildienst hatte er sich dann aber dazu entschieden, Grafikdesigner zu werden und später noch das Masterstudium in New York zu absolvieren. Via Stuttgart kam er schliesslich nach Zürich und merkte, dass er lieber mehr Zeit mit der Familie verbringen als die Karriereleiter erklimmen wollte. Das hatte zur Folge, dass er statt mit extravaganten Designprojekten eher mit der Gestaltung von Werbesachen und Firmenbroschüren beschäftigt war. Und das frustrierte ihn auf Dauer.
Bei der Neuorientierung mit knapp 50 war die Familie noch einmal sehr wichtig. Kienzles Frau, die Vollzeit als Innenarchitektin arbeitet, und seine 14-jährige Tochter ermutigten ihn, den Neuanfang zu wagen. Dabei war dieser mit einer markanten Lohneinbusse verbunden.
Normalerweise würde er als Lernender im 2. Jahr 1400 Franken verdienen. Da er aber in einem Gesundheitszentrum für das Alter der Stadt Zürich angestellt ist, verdient Kienzle etwas mehr als 4000 Franken – was aber nur rund der Hälfte seines letzten Lohns vor dem Umstieg entspricht.
«Wenn man auf sich allein gestellt ist, muss man sich das erst einmal leisten können», sagt Kienzle. So seien einige, die mit ihm zusammen das Studium Pflege begonnen hätten, temporär wieder bei den Eltern eingezogen, um Geld zu sparen. Für Kienzle geht die Rechnung auf, weil seine Frau den grösseren Teil zum Haushaltsbudget beisteuert und er die Mischung aus Studium und praktischem Arbeiten mag.
Sensibilisiert für die Bedeutung guter Pflege hat ihn auch, dass sein Vater vor einigen Jahren an Parkinson erkrankte. Bei seinen Besuchen im Altersheim und zum Schluss auf einer Palliativabteilung wurde Kienzle bewusst, wie wichtig die Arbeit der Pflegefachleute für Menschen ist, die ihre Selbstständigkeit verloren haben.
Im Umgang mit anspruchsvollen, manchmal schwierigen Patienten oder Bewohnerinnen komme ihm seine Lebenserfahrung zugute, sagt Kienzle. Aber er habe im Bereich der Medizinaltechnik noch viel zu lernen. «Ich bin ein kommunikativer Mensch und mag die Beziehungspflege – aber wenn du sicherstellen musst, dass bis 10 Uhr sieben Bewohner in einem bestimmten Zustand an einem bestimmten Ort sind, darfst du nicht zu lange plaudern», sagt Kienzle und lacht. Da müsse man auch mal eine Blutzuckeranalyse und Insulinabgabe durchführen, ohne allzu viel Zeit in die Beziehungspflege zu investieren.
Das Gefühl, dass alles eng getaktet ist, empfinde er manchmal als anstrengend; ein paar nette Worte, eine Berührung, ein gemeinsames Staunen vor einem Spiegel – solche Aufmerksamkeiten würden oft Wunder bewirken.
Dass ihn die betagten Menschen, die er betreut, seines Alters wegen oft «Herr Doktor» nennen, obwohl auf seinem Kittel «Auszubildender» steht, stört Kienzle nicht. Er spüre hier, wie seine Arbeit geschätzt werde, wie er die Laune von Menschen, die nicht mehr so viel zu lachen hätten, aufhellen und auch dementen Bewohnern eine Freude bereiten könne.
Bei aller Zufriedenheit will der 52-Jährige seinen neuen Beruf aber nicht idealisieren. Wenn man den ganzen Tag mit Menschen zu tun habe, sei man viel exponierter als in einem Büro, wo es auch mal drin liege, etwas Zeit im Internet zu vertrödeln oder sich bei schlechter Laune etwas abzuschotten.
Auch der Wechsel zwischen Früh- und Spätschichten gehe an die Substanz, überhaupt sei die Arbeit körperlich so herausfordernd, dass er am Ende einer Schicht jeweils «ziemlich platt» sei. Doch wenn er mit seinem Single-Speed-Fahrrad eine halbe Stunde lang nach Hause pedalt – «die beste Psychohygiene für mich» – werde er sich regelmässig bewusst, wie privilegiert er sei, dass er gesund und schmerzfrei sei.
Kienzle hält sich ausserdem mit Joggen und Thaiboxen fit, um den körperlichen Anforderungen an den Pflegeberuf auch jenseits der 60 noch gewachsen zu sein. Für ihn ist klar, dass er nach Abschluss der Ausbildung im Sommer 2023 weiter in seinem neuen Beruf tätig sein will.
Menschen, die im fortgeschrittenen Alter noch einen Umstieg wagen wollen, rät er drei Dinge:
Nicht nur über Berufe nachzudenken, sondern diese in der Praxis auszuprobieren;
mit erfahrenen Berufsleuten zu sprechen, die einem eine realistische Sicht aufs neue Wirkungsfeld vermitteln können;
Mehr auf das Herz als auf den Kopf zu hören und sich alle Herzensgründe zu notieren, warum man eine neue berufliche Richtung einschlagen möchte. «Wenn das Herz mit an Bord ist, lernt der Kopf viel leichter.»
Kontakt und weitere Informationen zum Quereinstieg in die Langzeitpflege:
https://langzeit-pflege.ch/quereinstieg
29. August 2022