Theo Wehner, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie, ETH Zürich
«Die Arbeitswelt neigt dazu, uns aufzufressen»
Warum leiden so viele Berufstätige unter Stress, obwohl es ihnen materiell besser geht denn je? «Vielen fehlt die Sinnkomponente», sagt Theo Wehner, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der ETH Zürich. Weil die einzelnen Tätigkeiten eher erschöpfend als erfüllend seien, liessen sich viele Erwerbstätige nur noch durch Lohn, Boni und Status motivieren, was zu Entsolidarisierung und Resignation führe.
Interview: Mathias Morgenthaler Foto: Markus Forte
Kontakt und weitere Informationen:
www.pda.ethz.ch oder twehner@ethz.ch
Herr Wehner, haben Sie den richtigen Beruf gewählt?
THEO WEHNER: Ja, das habe ich – zwar nicht im ersten Anlauf, aber Umwege erhöhen die Ortskenntnis! Als ich mit 13 Jahren aus der Schule kam, hätte ich das Lebensmittelgeschäft meiner Eltern übernehmen sollen. Ich hatte aber andere Vorstellungen, lernte zwar noch Kaufmann, machte dann ein Volontariat auf einer Bank, um mich danach endgültig neu zu orientieren.
War die Arbeit bei der Bank so schlimm, dass Sie nachher gleich ein Psychologiestudium in Angriff genommen haben?
Mich störte unter anderem die Distanz zwischen Bankangestellten und ihren Kunden, symbolisiert durch das Panzerglas, das uns trennte. Im Studium interessierte ich mich früh für arbeits- und organisationspsychologische Fragestellungen. In den Siebzigerjahren wurden in Deutschland und Skandinavien Millionen für die Humanisierung der Arbeitswelt ausgegeben. Wir konnten mit grossem Engagement der Frage nachgehen, was eigentlich gute Arbeit ist.
Haben Sie eine Antwort gefunden?
Schon damals kamen wir zur Erkenntnis: Es kommt nicht nur auf gute Organisation und intakte soziale Beziehungen an, sondern sehr stark auch auf die Tätigkeit selbst. Gute Arbeit heisst also auch: dass wir mit unseren Händen etwas Greifbares bewirken können. Das gilt auch für Dienstleistungen.
Ist die Humanisierung der Arbeitswelt geglückt?
Ich fürchte nicht, nein. Die Arbeit ist heute durch eine starke Entsolidarisierung auf horizontaler Ebene geprägt: wir sind mehr Konkurrenten als Kollegen. Auf vertikaler Ebene ist das Machtgefälle ausgeprägter denn je – allem Gerede über partnerschaftliche Führung zum Trotz. Was mir am meisten Sorgen bereitet: Sehr viele zerstückelte Tätigkeiten in der heutigen Arbeitswelt werden nur noch aufgrund extrinsischer Anreize wie Lohn, Bonus, Status etc. erledigt. Es fehlt der intrinsische Aufforderungscharakter, die Sinnkomponente. Wenn die Berufstätigen nicht mehr das Gefühl haben, ganzheitlich tätig zu sein, Probleme zu lösen, etwas bewirken zu können, dann brauchen sie immer stärkere äussere Anreize. Wer aber Gestaltungsfreiraum und Entscheidungsfreiheit hat bei seinem Tun und in der Tätigkeit Befriedigung findet, der muss nicht künstlich motiviert werden.
Das Wohlstandsniveau war nie so hoch wie heute in der Schweiz, dennoch sind wir permanent gestresst. Warum?
Die Sinngenerierung über die Arbeit gelingt nicht mehr. Wenn jemand die Einkaufswaren von 1300 Kunden über einen Scanner zieht, ist das keine erfüllende, sondern eine erschöpfende Arbeit. So geht es heute vielen. Sie bewegen sich in einem sehr engen Spektrum, ohne Bezug zu etwas sinnvollem Grösseren. Natürlich kann man sagen: Jeder ist frei und selbst verantwortlich, er kann für gute Arbeit und ein gelungenes Leben sorgen. Aber Arbeit bedeutet immer Arbeitsteilung, Koordination, Solidarität. Wir brauchen die anderen. Im Rahmen des «Global Workforce Index» wurden die Leute zu einem Gedankenexperiment aufgefordert und gefragt, ob sie auf Lohn und/oder Status verzichten würden zugunsten einer sinnvolleren Arbeit. Zwischen 55 und 70 Prozent sagten ja, auch in der Schweiz. Die Sehnsucht nach wahrer Gratifikation statt bloss monetärer Entschädigung ist demnach weit verbreitet.
Wie Sie schon sagten: Niemand muss in einem langweiligen Job verharren. Manche machen sich selbständig, andere schaffen es, sich mehr Freiräume in einer bestehenden Anstellung zu erkämpfen.
Es ist enorm wichtig, dass jeder Einzelne hier anspruchsvoll ist, dass er sich fragt, welche Ziele er beruflich erreichen will, was ihm wirklich entspricht und wie er dahin kommen kann. Mich erschreckt der hohe Grad an Resignation vieler Berufstätiger. Wir haben mehr Gestaltungsmöglichkeiten, als wir wahrnehmen. Veränderungen jedoch gelingen meistens nicht ohne Einschnitte, ohne Mut und Mobilität. Seltsamerweise impliziert in der Schweiz jeder berufliche Umbruch – wenn er nicht genau in das CV-Design passt – fast schon ein Scheitern, eine Abwertung der Vergangenheit. Als müssten wir uns rechtfertigen für unseren Wunsch nach Gestaltung und Veränderung.
Vielleicht erwarten wir auch einfach zu viel Sinngebung und Selbstverwirklichungräume von der Arbeitswelt. Manche sagen: «Job ist Job, den Genuss hole ich mir in der Freizeit.»
...was dazu führt, dass wir sogar in der Freizeit unter Stress und Leistungsdruck stehen. Dieses Modell funktioniert immer weniger, weil die Arbeitsgesellschaft so dominant geworden ist, dass sie alle anderen Lebensbereiche synchronisiert. Die Work-Life-Balance haben viele längst abgeschrieben, sie sind froh, wenn sie noch einigermassen die Work-Work-Balance hinbekommen. Die Arbeitswelt neigt dazu, uns aufzufressen – Laptops und Smartphones helfen ihr dabei. Es ist paradox. Dank der Rationalisierung verrichten heute 50 Leute ein Arbeitspensum, für das es vor 30 Jahren 100 Personen brauchte. Wird diese Optimierung zurückbezahlt? Das Gegenteil ist der Fall. Von den 50 Leuten wird heute verlangt, dass sie immer noch verdichteter arbeiten, am liebsten auch am Wochenende und in den Ferien; auf dem Weg zur und von der Arbeit ohnehin.
Die Initiative für sechs Wochen Ferien war vor dem Volk chancenlos.
Das hat mich sehr nachdenklich gemacht. Es hat aber mehr damit zu tun, dass vor allem die Gewerkschaften auf ein weit verbreitetes Bedürfnis falsch reagiert haben. Das Modell «6 Wochen Ferien für alle» passt eher in die Mitte des 20. Jahrhunderts als in unsere Zeit. Die Konsequenz wäre mehr organisationale Koordination und individulle Abstimmungen für Unternehmen und Angestellte, sprich: noch mehr Sozialstress. Wenn wir die Eigenzeit erhöhen wollen, sollten wir Zeitkonten mit einer Laufzeit von ein oder zwei Jahren einrichten, sprich allen Seiten mehr Flexibilität schenken. Schon heute engagiert sich in der Schweiz jeder Zweite in der Freiwilligenarbeit. Wir wissen aus eigenen Studien, dass davon nicht nur die Gesellschaft profitiert, sondern dass auch die, die Freiwilligenarbeit leisten, zufriedener sind und weniger Work-Life-Konflikte haben. Nur fehlt vielen – heute mehr als früher – der Freiraum für ein solches Engagement.
Werben Sie deshalb für die Initiative «Bedingungsloses Grundeinkommen» (BGE), für die laut Komitee schon über 100'000 Stimmen gesammelt worden sind?
Ich mache keine Werbung, aber ich plädiere dafür, dass wir uns gedanklich sehr sorgfältig mit diesem radikalen Modellwechsel auseinandersetzen. In den Volksinitiativen der letzten Monate zeigt sich, dass unser Gerechtigkeitsbedürfnis nicht mehr befriedigt wird. Abzocker-Initiative und 1:12-Initiative sind Interventionen nach dem Reparaturprinzip. Sie lösen nicht alle Probleme, schaffen sogar neue Probleme. Die BGE-Initiative stellt uns vor die Grundsatzfrage, ob es nicht sinnvoll wäre, Einkommen und Arbeit zu entkoppeln, weil Arbeit heute viel mehr ist als Lohnarbeit und es kontraproduktiv ist, die menschliche Tätigkeit unter das Primat der Entlöhnung zu stellen. Ich kann mir gut vorstellen, dass in grossem Ausmass Kreativität und Potenzial freigesetzt würden, wenn wir nicht mehr des Geldes wegen mehr oder weniger stumpfsinnige Arbeiten verrichten müssten.
Beim BGE würden wir alle mit einem Sockelbeitrag vom Staat alimentiert. Sind Sie sicher, dass sich das finanzieren lässt und dass es nicht negative Auswirkungen hätte?
Ich bin Psychologe, kein Ökonom – natürlich müssen das Ökonomen gründlich durchrechnen. Oft ist die Frage ja nicht, ob es genügend Geld gibt, sondern wie wir unser Geld investieren. Hätte vor der Einführung des Euro jemand gesagt, dass man in nicht allzu ferner Zeit 700 Milliarden für seine Rettung wird ausgeben müssen, hätte das niemand für bezahlbar gehalten. Heute wird das einfach gemacht – und aller Voraussicht nach wird es nicht ausreichen. Wir sollten bei der Debatte über das BGE nicht von Spinnern und Realisten reden, sondern sie nutzen, um Ansätze zu finden, die unserer Gesellschaft dienen. Eine Umfrage von uns bei 1200 Personen hat gezeigt, dass Befürworter und Gegner der Initiative unter BGE-Bedingungen zu allererst ihr Arbeitspensum reduzieren würden zugunsten von mehr Zeit für Weiterbildung, Familie und Freiwilligenarbeit. Auch Gegner anerkennen übrigens in Diskussion, dass die heutige Arbeitswelt uns krank macht. Daran müssen wir etwas ändern. Vielleicht lautet die Lösung am Ende nicht BGE – es kann sein, dass auch ich überfordert wäre mit diesem Modell.
Was kann jeder Einzelne tun gegen die Überforderung bei der Arbeit?
Sich der Frage stellen, was seine wahre Bestimmung ist, was er durch seine Arbeit bewegen möchte. Viele geben sich in Berufsdingen mit einer Notlösung zufrieden und versuchen, ohne allzu grossen Schaden durchzukommen. Es ist einfach, äussere Zwänge vorzuschieben und mit Verweis auf Familie, Hypothek und Sonstiges im Hamsterrad weiterzurennen. Generell beobachte ich eine Kompensationsbewegung zur Rationalisierungs- und Spezialisierungstendenz in der Arbeitswelt. Es gibt wieder mehr Menschen, die das Handwerk schätzen, die Arbeit mit Holz, im Garten, an einem mechanischen Problem. Ich sehe einen Trend in Richtung Selbstversorgung und Tauschgemeinschaften, Naturnähe und ausdrücklichem Miteinander. Das ist kein Zufall, denn als soziale Wesen leben wir hauptsächlich von Anerkennung und Resonanz – und Resonanz bedeutet eben auch, dass wir das Resultat unseres Tuns sehen und dieses für schön und sinnvoll halten.